64. Bundeskongress in Bremen, 14.10.17
Änderung des Politischen Programms der JEF Deutschland
Der folgende Text wird als neues Kapitel 3 eingefügt. Die Nummerierung der nachfolgenden Kapitel wird entsprechend angepasst. Ebenso sollen aus dem Politischen Programm die Zeilen 108-112 (Seite 4) gestrichen werden, um eine inhaltliche Dopplung zu vermeiden.
3. Warum wir die Vereinigten Staaten von Europa brauchen
Für ein handlungsfähiges Europa
Die Nationalstaaten stoßen insbesondere vor dem Hintergrund der voranschreitenden Globalisierung in vielen Bereichen an die Grenzen ihres politischen Gestaltungsspielraums. Viele Herausforderungen unserer Zeit wie die Regulierung von Unternehmen und Finanzmärkten, die Nutzung der Chancen der Digitalisierung, der Datenschutz oder die Aufnahme von Flüchtlingen lassen sich nicht mehr sinnvoll auf nationaler Ebene, sondern nur noch gemeinsam auf europäischer Ebene lösen. Besonders augenfällig ist dies im Bereich der Außenpolitik: Angesichts des Entstehens einer multipolaren Weltordnung mit neuen Mächten wie Indien und China sind selbst große EU-Mitgliedsstaaten zu klein, um ihre Interessen in der internationalen Politik erfolgreich vertreten und weltpolitisch Verantwortung übernehmen zu können. Manche Herausforderungen wie z.B. die Bekämpfung des Klimawandels lassen sich sogar nur global lösen. Gerade in diesen Fragen ist es entscheidend, dass Europa mit einer Stimme spricht. Diese Beispiele verdeutlichen: Gemeinsame Herausforderungen bedürfen gemeinsamer Lösungen. Diese Formel macht für uns Föderalisten auch den Wesenskern des Föderalismus aus. Die Europäische Union jedoch verfügt in ihrer derzeitigen Struktur nicht über die notwendigen Kompetenzen, um diese Herausforderungen meistern zu können.
Dass Teile der Bevölkerung der EU kritisch oder sogar ablehnend gegenüberstehen, liegt auch darin begründet, dass die EU in den vergangenen Jahren oft nicht in der Lage war, auf Krisen und politische Entwicklungen schnell und entschlossen zu reagieren und deren Ursachen zu begegnen. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise beispielsweise hat Europa in besonderem Maße getroffen und damit schmerzhaft deutlich gemacht, dass zwischenstaatliche Lösungen Krisen nur verzögern anstatt sie zu bewältigen. Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, damit Europa handlungsfähig wird. Um den Stillstand in der EU zu überwinden, müssen wir die europäische Ebene mit jenen Kompetenzen ausstatten, die sie braucht, um handlungsfähig zu sein.
Für eine europäische Demokratie
Viele EU-Bürger haben das Gefühl, dass sie auf die Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, keinen Einfluss haben; ja, dass sie noch nicht einmal die grundlegende Richtung der europäischen Politik mitbestimmen können. Auch das Europäische Parlament als Vertretung der Bürger*innen lässt eine solche Politisierung vermissen, die unterschiedliche politische Konzepte deutlich werden ließe und erkennbar machen würde, welche Politiker*innen und Parteien für welche Politik verantwortlich sind. Dem Institutionengefüge der EU mangelt es an dem für Demokratien so wichtigen Wechselspiel aus Regierung und Opposition. Es fehlt an einer europäischen Regierung, die die politische Richtung vorgibt und die ihre Legitimation aus einer bei der Parlamentswahl errungenen Mehrheit der Stimmen der Bürger*innen schöpft. Es fehlt an einer ihr gegenüberstehenden Opposition, die die Arbeit der Regierung kritisch begleitet, Alternativen aufzeigt und Missstände anprangert.
Dass die Leitlinien der europäischen Politik nicht von einer vom Europäischen Parlament gewählten europäischen Regierung, sondern vom Europäischen Rat bestimmt werden, ist Ausdruck eines Demokratiedefizits der Europäischen Union.
Dass die Stärkung der demokratischen Legitimation europäischer Politik dringend notwendig ist, zeigt ein weiteres, gravierendes Problem: Aufgrund der dominanten Rolle, die die nationalen Regierungen und insbesondere die Staats- und Regierungschefs derzeit bei Entscheidungen spielen, bestimmen die Politiker eines Landes maßgeblich die Politik anderer Länder mit. Dieser Einfluss reicht bis hin zu haushaltspolitischen Fragen und grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen. Das aber bedeutet, dass Bürger von Entscheidungen von Politikern betroffen sind, an deren Wahl sie nicht beteiligt gewesen sind.
Mit besonderer Sorge beobachten wir als JEF, dass die Macht der Regierungen in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise stetig gewachsen ist und mehr und mehr weitreichende Entscheidungen auf intergouvernementaler Ebene getroffen werden – teilweise sogar außerhalb der Institutionen der EU. Damit entzieht sich die europäische Politik in zunehmendem Maße der parlamentarischen Kontrolle. Der Europäische Rat hat sich vom Wegbereiter zum Wegbeschreiter entwickelt, lässt aber politischen Reformwillen vermissen. Durch diese schleichende Kompetenzverschiebung von Parlamenten zu Regierungen wächst das europäische Demokratiedefizit weiter. Das Europäische Parlament wird umgangen, die nationalen Parlamente werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Ziel muss es daher sein, Entscheidungen dieser Art in die Hände transnationaler, demokratisch legitimierter und dem europäischen Gemeinwohl verpflichteter Institutionen zu legen.
Mit der unzureichenden Handlungsfähigkeit einerseits und dem Demokratiedefizit andererseits weist die Europäische Union zwei grundlegende Mängel auf, die den Fortbestand der EU gefährden, da auf der einen Seite Probleme nicht gelöst werden können und auf der anderen Seite ein Vertrauensverlust bei den Bürgern entsteht. Deshalb gilt es, diese Mängel durch eine grundlegende Neuordnung der Strukturen hin zu handlungsfähigen und demokratischen Vereinigten Staaten von Europa zu überwinden. Dabei sind beide Punkte eng miteinander verknüpft: Ein Mehr an Europa setzt zugleich auch ein Mehr an Demokratie und Transparenz voraus. Wir fordern einen europäischen Bundesstaat, damit aus einem Zusammenschluss von Staaten eine supranationale europäische Demokratie wird.
Im Zentrum des politischen Systems der EU steht – statt einer europäischen Regierung, die durch eine Opposition kontrolliert wird – der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, welcher keiner parlamentarischen Kontrolle durch ein Organ der EU unterliegt.
Für einen gesamteuropäischen Diskurs
Aufgrund der starken Rolle des Europäischen Rates und der schwachen Politisierung des Europäischen Parlaments gibt es für die Medien kaum Anknüpfungspunkte für die Berichterstattung über die Arbeit des Parlaments, kaum kontroverse Themen, die man aufgreifen könnte. Es fehlt an Personen aus Kommission und Parlament, die Kraft ihrer Position über maßgeblichen Einfluss verfügen und an denen sich unterschiedliche politische Vorstellungen festmachen ließen. Erst durch Politiker aber, die abstrakte Politik transportieren, wird diese für die Bürger*innen greifbar.
Dieser Mangel führt zwangsläufig dazu, dass der Fokus der Berichterstattung in erster Linie auf dem Europäischen Rat und damit nicht auf unterschiedlichen politischen Konzepten, sondern auf nationalen Gegensätzen liegt. Dieser Blickwinkel jedoch suggeriert, Nationalstaaten seien monolithische Blöcke, verschleiert die eigentliche Natur von politischen Entscheidungen und schadet damit dem europäischen Geist. Es ist also die Struktur des politischen Systems, die die Form des öffentlichen Diskurses bestimmt und damit die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit verhindert. Wir fordern die Vereinigten Staaten von Europa, damit wir europaweit gemeinsam darüber diskutieren, welche Wege wir politisch einschlagen wollen.
Für eine Vollendung des europäischen Projekts
Die Weiterentwicklung der EU zu den Vereinigten Staaten von Europa ist die logische Fortsetzung der bisherigen historischen Entwicklung der europäischen Integration. Die Vernetzung Europas nimmt in gesellschaftlicher sowie wirtschaftlicher Hinsicht immer weiter zu. Was heute in einem Mitgliedsland entschieden wird, hat demnach immer auch Auswirkungen auf die Bürger*innen und andere Mitgliedsländer. Darüber hinaus nimmt auch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen verschiedenen Politikbereichen, für die derzeit häufig mal die Mitgliedschaften, mal die EU zuständig sind, immer weiter zu. Nur die Vereinigten Staaten von Europa mit starken wirtschaftspolitischen Kompetenzen erlauben es, die vielfältigen Abhängigkeiten bei der Ausgestaltung von Politik zu berücksichtigen, und das historische Projekt eines europäischen Binnenmarktes zu vollenden.
Auf diese Weise können auch die historisch bedingten ökonomischen und sozialen Ungleichheiten verringert werden – etwas, was die bloße Existenz eines europäischen Binnenmarktes nicht zu erreichen vermochte.
Die Schaffung eines europäischen Bundesstaates, in dem die Teilstaaten nach dem Prinzip der Subsidiarität weiterhin über eigene Kompetenzen verfügen, erlaubt es, Handlungsfähigkeit nach innen und außen, demokratische Strukturen und einen gemeinsamen Diskursraum, die Wahrung europäischer Vielfalt und einen effektiven Schutz von Minderheiten auf Basis gemeinsamer Werte miteinander zu verbinden. Wir fordern die Vereinigten Staaten von Europa, um das historische Projekt der europäischen Einigung zu vollenden.