62. Bundeskongress in Berlin, 03.10.15
Leitantrag des Bundesvorstandes („Europa, jetzt erst recht!“)
Beschluss im Wortlaut:
Europa, jetzt erst recht!
Demokratie in Europa
Die Tatsache, dass bei den letzten Europawahlen viele Parteien erstmals Spitzenkandidaten aufgestellt haben und dabei der bisherige Primat der nationalen Regierungen zur Aufstellung der Europäischen Kommission gebrochen wurde, hat der EU einen demokratischen Schub beschert. Die Demokratisierung der Europäischen Union wird jedoch gleichzeitig gefährdet durch die Art und Weise, wie versucht wird, mit der Euro-Krise umzugehen. Statt Organen, die allen Europäern demokratisch verantwortlich sind, haben die nationalen Regierungen das Zepter ergriffen und sowohl die EU als auch ihre nationalen Parlamente zu Statisten der Gipfelpolitik degradiert. Dies führt dazu, dass Eurostaaten Auflagen bekommen, die beschlossen worden sind von Personen, die in anderen Eurostaaten gewählt und abgewählt werden. In Zukunft müssen alle Entscheidungen, die alle EU-Bürger betreffen, auch von europäischen Organen getroffen werden, die auch der demokratischen Kontrolle aller EU-Bürger unterworfen sind.
Mit Sorge blicken wir nach Ungarn. Der dortige Ministerpräsident Victor Orbán missbraucht seine verfassungsändernde Mehrheit dazu, das politische System dergestalt zu verändern, dass das Grundprinzip der europäischen Demokratie, die Gewaltenteilung z.B. durch die Einschränkung der Antragsnummer: 120 Antrag: Leitantrag des Bundesvorstandes („Europa geht voran“) Kontrollrechte des Verfassungsgerichts, zunehmend untergraben wird. Die Europäische Union und auch die Europäischen Staaten verharren tatenlos angesichts offensichtlicher Verstöße gegen die Prinzipien von demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Leider sind die Regierungen, welche die ungarische zur Ordnung rufen müssen, selbst viel zu sehr damit beschäftigt, dafür zu sorgen, dass sie über die EU einen großen Teil der Gesetzgebung in der Hand behalten und die Demokratisierung der EU ausbleibt.
Wirtschaftlichen Ausnahmezustand beenden
Die EU muss endlich aus dem permanenten Ausnahmezustand herauskommen. Es muss eine Regelung gefunden werden, die verhindert, dass eine Krise in einem Mitgliedsstaat das europäische Bankensystem und die europäische Währung existentiell bedroht. Dazu bedarf es eines gemeinsamen europäischen Einlagensicherungsfonds und für den Notfall einer gemeinsamen Bankenrettung. Der Zweck ist, zu verhindern, dass im Falle eines Bankrotts eines Nationalstaats das europäische Finanzsystem und der Euro gefährdet werden und dass eine Krise der Banken in einem Mitgliedstaat dazu führt, dass dieser Mitgliedsstaat beim Versuch, die Banken zu retten, selbst zahlungsunfähig wird.
Die Jugendarbeitslosigkeit in der EU droht, viele Millionen junger Menschen die Zukunft zu kosten. Eine Teilursache ist der Umstand, dass in einigen Mitgliedstaaten die Kündigungsschutzgesetze derart ungerecht gestaltet sind, dass sie zu einem segmentierten Arbeitsmarkt führen, in der junge Menschen eine schutzlose Verfügungsmasse sind, während viele Stellen von älteren Arbeitnehmern besetzt sind. Die europäische Jugendgarantie ist offensichtlich kein ausreichendes Mittel, um das Problem einzuhegen. Nur durch volkswirtschaftliches Wachstum und einen durchlässigeren Arbeitsmarkt können junge Menschen wieder die Chance bekommen, ihr Leben erfolgreich zu gestalten.
Um in Zukunft zu verhindern, dass stark asymmetrische volkswirtschaftliche Schocks die gesamte Eurozone ins Wanken bringen, müssen die großen Leitlinien der Wirtschaftspolitik auf europäischer Ebene von einem europäischen Wirtschaftsministerium entschieden werden. Gleichzeitig behalten die Staaten einen großen Teil ihrer wirtschaftspolitischen Eigenständigkeit, sodass der faire, fruchtbare Wettbewerb der Staaten untereinander nicht unterminiert wird.
Das Voranschreiten Europas zu einer energieneutralen Wirtschaft mit Hilfe marktbasierter Regulationsinstrumente bietet die Chance zu einer wirtschaftlichen Revolution, welche den Wohlstand vermehrt und Europa an die wirtschaftliche Weltspitze bringt.
Überhaupt muss Europa wieder zum führenden Innovationsstandort werden. Der Schlüssel dazu ist die Investition in Forschung und Entwicklung. Die staatlichen Investitionen in die Wissenschaft Antragsnummer: 120 Antrag: Leitantrag des Bundesvorstandes („Europa, jetzt erst recht!“) müssen in der EU doppelt so groß sein wie in den USA und China zusammen. Europa darf nicht mehr von der globalen technischen Entwicklung getrieben sein oder gar versuchen, sie abzubremsen, sondern muss selbst die Führung übernehmen.
Für eine europäische Asyl-, Einwanderungs- und Freizügigkeitspolitik
Freizügigkeit bedeutet nicht in erster Linie, dass man nicht verhindern kann, dass andere in das eigene Land kommen, sondern dass man die Freiheit besitzt, sein Leben in einem Land seiner Wahl zu gestalten. In diesem Zusammenhang betonen die Jungen Europäischen Föderalisten erneut nachdrücklich die Notwendigkeit zur Etablierung von Englisch als zweiter Amtssprache in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Wer in ein neues Land kommt, sollte die dortige Sprache lernen. Bevor dies bereits geschehen ist, muss er mit Behörden in Kontakt treten und die Sprachbarriere hat dabei eine unnötig abschreckende Wirkung auf Menschen, die ihre Freizügigkeit nutzen wollen. Auch Investitionen und Handel werden durch die aktuell noch vorhandene Sprachbarriere behindert.
Europa steht angesichts der aktuellen Flüchtlingsströme in die EU vor der größten humanitären Herausforderung seit dem Balkankrieg. Doch statt konzertierten Handelns der europäischen Staaten sind Hilflosigkeit und das Abschieben der Verantwortung die Leitprinzipien der Stunde. Die Europäischen Staaten sind gefordert, endlich und dauerhaft gemeinsame und verbindliche Standards zum Umgang mit Flüchtlingen zu schaffen. Hierzu zählt insbesondere die Einigung auf gemeinsame Voraussetzungen zur Erlangung des Asylstatus, zur Dauer und Art des Asylverfahrens und zur Verteilung der Asylberechtigten. Diese Regeln müssen anschließend konsequent umgesetzt und flächendeckend angewandt werden. Gerade Großbritannien und zahlreiche ostmitteleuropäische Staaten verstoßen dabei derzeit gegen das Solidaritätsprinzip der Europäischen Union bzw. werden von den übrigen Staaten nicht genug in die Pflicht genommen.
Zukünftig muss es möglich sein, dass Flüchtlinge in EU-Vertretungen Asyl beantragen. Wir sprechen uns dafür aus, dass durch eine an rechtsstaatliche Bedingungen geknüpfte Entwicklungszusammenarbeit und Handelspolitik ein Anreiz für Drittstaaten entsteht, keine Fluchtgründe entstehen zu lassen bzw. Fluchtgründe a priori zu verhindern.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Durchführung dieser Maßnahmen den Druck auf bislang überdurchschnittlich durch Asylverfahren belastete Mitgliedsstaaten wie Schweden, Österreich oder Deutschland rasch mindern könnte und damit die Akzeptanz des Asylrechts in der Bevölkerung weiter steigen würde, verurteilen wir jegliche gegenwärtige Gewalt und öffentliche Hetze gegen Flüchtlinge.
Sicherheit für Europa und Frieden für die Welt
Europa kann die globalen Herausforderungen nicht alleine lösen. Die Partnerschaft und Zusammenarbeit mit anderen Ländern ist daher zentral für das Gelingen einer Weltpolitik, welche Antragsnummer: 120 Antrag: Leitantrag des Bundesvorstandes („Europa geht voran“) die Lösungen für Probleme wie Gewalt, Armut und Umweltschädigung findet. Europa kann nur dann einen konstruktiven Einfluss nehmen, wenn es als geeinter Akteur handelt. Eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik, die ihren Namen verdient, nützt nicht nur unseren Interessen, sondern kann auch helfen, die Welt insgesamt besser zu machen. Bisher ist die EU ein nicht nur schwacher, sondern aufgrund nicht konzertierter Außenpolitik auch unzuverlässiger Partner.
Als unser direkter Nachbar ist Russland für uns ein wichtiger Partner, mit dem wir eng zusammenarbeiten möchten. Das bedeutet aber auch, dass man sich an gemeinsame Regeln hält. Einen anderen Staat anzugreifen, nur weil dieser enger mit der EU zusammenarbeiten will, ist – wie das Angreifen anderer Staaten überhaupt – völkerrechtswidrig. In Zukunft muss die EU eine gemeinsame Verteidigung mit integriertem Militär besitzen, um mögliche Eroberungsgelüste von Staaten wie Russland gegenüber EU-Mitgliedsstaaten abzuschrecken. Das Ziel ist also ausdrücklich die Verhinderung militärischer Konflikt. Gleichzeitig müssen vertrauensbildende Maßnahmen dazu führen, dass das Verhältnis zu Russland wieder partnerschaftlich wird.
Mit Sorge beobachten wir die Entwicklungen in der Türkei. Sie ist ein wichtiger Partner im Kampf gegen den islamistischen Terror und muss als solcher unterstützt werden. Das entschuldigt aber nicht den immer stärkeren Nationalismus, Autoritarismus und die Aufweichung des Laizismus durch die türkische Regierung. Darüber hinaus verurteilen wir das militärische Vorgehen gegen die kurdische Minderheit ausdrücklich. Jegliche militärische Handlungen gegen die kurdische Minderheit müssen eingestellt und der Dialog mit den Kurden fortgeführt werden. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und damit verbunden Minderheitenrechte sind eine Grundvoraussetzung für einen mittelfristigen EU-Beitritt der Türkei. Insbesondere sollte dann ein Handelsembargo mit rindfleischbasierter Gelatine und darauf basierenden Gummibärchen in Kraft gesetzt werden.
Der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus bleibt eine zentrale Herausforderung der verzahnten europäischen Innen- und Außenpolitik. Die Antwort kann jedoch nicht lauten, bürgerliche Freiheitsrechte einzuschränken. Die freiheitlich demokratische Grundordnung beweist ihre moralische und rechtliche Überlegenheit gegenüber autoritären und totalitären Regimen durch die Bekräftigung des Prinzips der individuellen Selbstbestimmung und nicht durch ihre Selbstbeschränkung. Wir betonen das Recht jedes EU-Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung. Unsere eigenen Geheimdienste sind durch starke rechtsstaatliche Vorschriften zu disziplinieren, ausländische Spionage ist durch einen europäischen Geheimdienst zu bekämpfen. Dazu zählt auch die Spionage durch traditionell mit der Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten verbündeter Länder.
Inner- und außerverbandliche Aufgaben der JEF
Die Jungen Europäischen Föderalisten sind der europapolitische Jugendverband. Ihre besondere Legitimität erhalten sie durch ihre überparteiliche Kultur, die Lösungen für die Probleme unserer Zeit perspektivisch aufzeigen. Mehr noch als in der Vergangenheit müssen die inhaltlichen Positionen der JEF sich auch in den Debatten der Jugendparteien und anderen europäischen Verbänden widerspiegeln. Dies wird u.a. dadurch erreicht, dass die JEF sich auf die Weiterentwicklung ihrer inhaltlichen Kernpositionen des politischen Programms konzentriert und europapolitische Detailthemen den politischen Parteien überlässt. Es ist an der Zeit, in Europa nicht mehr die schlechteste gerade noch vertretbare Lösung als Maß aller Dinge anzusehen. Das ständige, atemlose Herumlaborieren an Problemen ohne einen Entwurf für eine dauerhaft funktionsfähige Ordnung kann nicht die Basis eines gemeinsamen Europa sein. Wenn die EU auf eine vernünftige Grundlage gestellt wird, können die kulturelle Vielfalt Europas, unser zivilisatorischer Reichtum und der Erfindergeist der Europäer*innen erst ihr ganzes Potenzial entfalten. Die ruhmreichsten Tage Europas liegen noch vor uns. Gerade in diesen Tagen zeigen die Flüchtlings- Euro und Ukrainekrise deutlich, dass die Vergemeinschaftung von Politikbereichen ohne die Schaffung der dazugehörige funktionsfähigen demokratischen Institutionen zu scheitern droht. Unter Zugrundelegung unserer politischen Vorstellungen eines föderalen Europas könnten wir die aktuellen Herausforderungen nicht nur effektiver bewältigen, sondern derartige Krise würden gar nicht so eskalieren, wie sie es derzeit bedauerlicherweise tun. Da der Intergouvernementalismus und nationale Egoismen die bisherigen Errungenschaften der europäischen Integration gefährden, müssen wir also gerade jetzt lautstark für unsere Positionen eintreten und dürfen unsere Idee eines wahrhaft geeinten Europas nicht als eine ferne Zukunftsvision abtun.