64. Bundeskongress in Bremen, 14.10.17
Raus aus den Sonntagsreden, rein in den Regierungsalltag: Für eine bürgernahe und moderne Europapolitik der kommenden Bundesregierung
Beschluss im Wortlaut:
Das Jahr 2016 war in der Wahrnehmung vieler Menschen geprägt von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, die eher gespalten denn vereint haben. Kurz vor dem Jahreswechsel bildete der Ausgang der österreichischen Präsidentschaftswahl jedoch den Startpunkt für eine diskursive Wende und eine Rückkehr proeuropäischer Kräfte.
Aus JEF-Perspektive gab es einen gleichsam bedeutsameren Moment: Der March for Europe anlässlich des 60. Jahrestags der Unterzeichnung der Römischen Verträge hat zehntausende junge europabegeisterte Menschen aus allen Mitgliedstaaten der EU und darüber hinaus auf die Straße der italienischen Hauptstadt gebracht, um gemeinsam gegenüber den zeitgleich tagenden Staats- und Regierungschefs zu demonstrieren: Wir treten laut und deutlich für ein geeintes, demokratisches, soziales, starkes und vor allem föderales Europa ein. Parallel haben sich über Monate hinweg wöchentlich in immer größer werdender Zahl Menschen aller Altersgruppen auf öffentlichen Plätzen in Deutschland und ganz Europa versammelt, um ein gesellschaftliches Zeichen gegen Rechtspopulismus und für die Europäische Gemeinschaft zu setzen.
In Polen zum Beispiel, wo die nationalistische Regierung dabei ist, zentrale und fundamentale Werte Europas wie die Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit einzuschränken und offensiv anzugreifen, formiert sich wachsender gesellschaftlicher Widerstand gegen die kurzsichtige nationalistische Politik. Das Gefühl gegenseitiger Abhängigkeit und die Erkenntnis, dass wir in allen europäischen Ländern gemeinsam vor den gleichen Herausforderungen stehen, erfassen immer mehr Menschen in ganz Europa.
Diese Entwicklung hat aber auch einen tragischen Kern. Denn erst wenn die zivilisatorischen Errungenschaften Europas auf den Prüfstand gestellt werden, scheinen sich viele Menschen auf unser gemeinsames Schicksal zu besinnen. Es geht ein Ruck durch die europäische Zivilgesellschaft. Wir stehen vor einer ganzen Reihe von Chancen und Gelegenheitsfenstern für die europäische Politik der kommenden Monate und Jahre, von denen drei einen klaren Bogen von der europäischen bis zur lokalen Ebene schlagen:
- Erstmals seit etlichen Jahren bietet sich eine reale Gegebenheit, die deutschfranzösische Freundschaft auch auf Regierungsebene mit neuem Enthusiasmus und Leben zu füllen und gemeinsam mit der neuen französischen Regierung als Motor für die Fortsetzung des europäischen Einigungsprojekts zu fungieren.
- Auch wenn die vergangenen Wahlen in Europa in Wahlsiegen für proeuropäische Kräfte mündeten, so konnten populistische und antieuropäische Kräfte starke Stimmenzuwächse quer durch die EU verbuchen. Bei aller Ablehnung von deren Populismus und nationalistischer Hetze: Der Verweis auf existierende Missstände in Europa und Unzulänglichkeiten der Europäischen Union ist teils berechtigt.
- Gleichzeitig versucht die Europäische Kommission mit einem in Teilen partizipativen Weißbuchprozess und einer Reihe von Reflexionspapieren eine europaweite Debatte über zahlreiche relevanten Zukunftsthemen anzustoßen, die wir alle gemeinsam zivilgesellschaftlich weiter in die Breite tragen und mit proeuropäischer Energie gegen antieuropäische Abwehrreflexe führen müssen.
All das verlangt weit mehr als situative und erratische Regierungshektik auf einem europäischen Krisengipfel nach dem anderen, sondern stellt Anforderungen an eine weitsichtige, kohärente und gemeinschaftliche europapolitische Strategie. Diese Strategie braucht es in jedem Mitgliedsstaat der EU, frei von nationalen Egoismen und kurzfristiger innenpolitischer Erfolgssucht.
Deutschland kommt hierbei als bevölkerungsreichstes und wirtschaftlich stärkstes Land im Herzen Europas eine besondere Verantwortung zu. Während europaweit Regierungen in hohem Tempo wechseln, beginnt die deutsche Regierungschefin Angela Merkel voraussichtlich bald ihre vierte Amtszeit in Folge. Allein das wäre Anlass genug, diese Form der Stabilität auch auf Europa ausstrahlen zu lassen und kontinuierlich und beständig auf ein klar und transparent definiertes politisches Ziel hinzuarbeiten.
Die Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland fordern daher nach einem wichtigen europäischen Wahljahr 2017 die kommende Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland dazu auf,
- die Vorschläge des französischen Präsidenten Macron und der Europäischen Kommission aufzugreifen und im Schulterschluss mit unseren Partnern in Frankreich und Europa Diskussionsforen bereitzustellen, in denen die Bürger*innen auch wirklich Gehör finden. Insbesondere die organisierte Zivilgesellschaft soll dort mit der Bundesregierung in einen echten Dialog über ihre Visionen für Europa und konkrete Ideen eines deutschen Beitrags hierzu treten können. Diese Diskussionsforen sollten allen europäischen Partnern offenstehen.
- der deutschen Europapolitik auf Bundesebene endlich den politischen Stellenwert einzuräumen, den sie verdient und die europapolitischen Kompetenzen der Bundesregierung in einem eigens dafür einzurichtenden Ministerium für Europapolitik und Unionsangelegenheiten zu bündeln. Eine bürgernähere Europapolitik in Deutschland braucht den Grad an Personalisierung, den wir für die Politik der EU schon lange fordern und das Maß an Bündelung von Querschnittskompetenzen, welches man für eine strategiefähige Europapolitik braucht. Das kann und muss ein erster Schritt sein, um die Angriffsfläche der europafeindlichen Populist*innen zu reduzieren, Transparenz in der Formulierung von Europapolitik zu erhöhen und gänzlich neue Hebel der Regierungskommunikation zu nutzen.
- Debatten zur strukturellen Reform der europäischen Institutionen nicht mehr nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern als treibende Kraft auf eine weitere Demokratisierung europäischer Strukturen und Europäisierung nationaler Strukturen hinzuwirken. Dazu gehört der verbindliche Einsatz der Bundesregierung für die Schaffung transnationaler Europalisten der europäischen Parteienfamilien zur kommenden Europawahl 2019 und eine rechtlich bindende Verankerung des Spitzenkandidatenprinzips in einer europäischen Wahlrechtsreform. Auch die zahlreichen anderen Vorschläge, die Jean-Claude Juncker in seiner Rede State of the Union im September 2017 genannt hat, müssen als Debattenbeiträge von der Bundesregierung kommentiert und eingeordnet werden. Nur so entsteht eine Verknüpfung von abstrakt scheinenden Ideen und konkreten Konzepten, zu denen sich eine neue und bürgernähere Europapolitik positionieren muss.
- ihrer zentralen Position in Europa als Vermittlerin zwischen den Gründungsstaaten und anderen langjährigen EU-Staaten sowie den neueren osteuropäischen Mitgliedsstaaten zu verstehen. In diesen Zusammenhang spielt Polen eine zentrale Rolle. Die proeuropäischen, demokratischen Kräfte in Polen müssen daher kontinuierlich unterstützt werden. Das Format des Weimarer-Dreiecks muss gestärkt werden, um den Dialog weiterhin aufrecht zu erhalten.