Bundeskongress, 15.10.22
Konsequenzen des russischen Angriffskriegs für Europa
Beschluss im Wortlaut:
Bekundung zur Solidarität mit der Ukraine und Verurteilung des russischen Angriffskriegs
Als Europäer*innen haben wir eine klare Haltung: Wir stehen entschieden an der Seite der Ukraine sowie ihrer Bewohner*innen und bekräftigen unsere Solidarität. Die inspirierende Verteidigung ihres Landes und ihrer Werte sowie das historisch gewachsene Verlangen der ukrainischen Bevölkerung, ein Teil der europäischen Familie zu werden, soll endlich und vollumfänglich gewürdigt werden.
Daher bekräftigen wir unsere vollständige Solidarität mit der Ukraine und ihrer Bevölkerung in ihrem Kampf um Unabhängigkeit, Freiheit und Sicherheit. Wir rufen die Zivilgesellschaft in der EU dazu auf, Solidarität mit den Menschen in der Ukraine zu zeigen, nötigenfalls auf Kosten des eigenen Wohlstands und insbesondere gegenüber den in die EU geflüchteten Ukrainer*innen. Zugleich heißen wir den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Plan zur Einrichtung einer Wiederaufbau-Plattform für die Ukraine willkommen und begrüßen ihre Weiterentwicklung und Formalisierung. Über diese Plattform hinaus sollten auch weitere Finanzierungsquellen wie die Europäische Bank für Wiederaufbau, ein Sonderzugriff auf die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds und erweiterte Mittel der Östlichen Partnerschaft in Erwägung gezogen werden. Ebenso sollte sich die EU dafür einsetzen, dass sich Russland an der Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine beteiligen muss.
Der Angriffskrieg der russischen Föderation gegen die Ukraine ist und bleibt ein nicht hinnehmbarer Völkerrechtsbruch. Die außerterritorialen Gebietsansprüche Russlands sind illegitim und das daraus folgende Leid der ukrainischen Zivilbevölkerung ist untragbar. Die Scheinreferenden in den durch pro- russische Separatisten besetzten ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja wurden unter Zwang durchgeführt und sind daher völkerrechtswidrig. Bei den illegalen Annexionen der ukrainischen Regionen handelt es sich um Fremdbestimmung durch den Kreml, der dadurch weitere Menschenrechtsverletzungen legitimiert. Insbesondere systematische Verschleppungen von Menschen aus der Ukraine nach Russland und an die Frontlinie des Krieges, um für Russland gegen die eigene Bevölkerung zu kämpfen, verurteilen wir zutiefst und fordern die EU auf, weitere Fluchtwege in die EU für Ukrainer*innen bereitzustellen, wo dies möglich ist. Die Kriegspropaganda sowie die daraus resultierende Verzerrung der Realität verleiten Großteile der russischen Zivilbevölkerung zur Billigung bis hin sogar zur Befürwortung der kriegerischen Aggression. Unsere Solidarität gilt daher auch denjenigen in der russischen Bevölkerung, die den Krieg nicht wollen, die sich dagegen aussprechen und deshalb unter innenpolitischer Verfolgung leiden. Wir ermutigen die russische Zivilbevölkerung, Courage zu zeigen und sich der Tyrannei und Kriegstreiberei in ihrem Land zu widersetzen. Die aktuelle Regierung der Russischen Föderation und all ihrer Kollaborateure, Unterstützer und historischer Wegbereiter ist und bleibt zu verurteilen. Dies gilt vor allem für Lukaschenko, der nach der Bereitstellung belarussischer Militärstützpunkte für russische Angriffe auf die Ukraine nun Russlands Angriffskrieg sogar mit den eigenen Streitkräften militärisch unterstützen will. Spätestens jetzt müssen die Sanktionen der EU als Reaktion auf die Ankündigung der russisch-belarussischen Militäreinheit auf Lukaschenko und seine Gefolgsleute ausgeweitet werden.
Zeitenwende in der Außenpolitik Europas
Die EU war, ist und bleibt die Konstante für Frieden, Freiheit und Demokratie auf unserem Kontinent. Die europäische Solidarität ist der gelebte Geist der Bürger*innen und einer der Grundpfeiler unseres Zusammenlebens. Diesen Grundsatz lebendig werden zu lassen und die Formulierung nicht im Sande verlaufen zu lassen, ist eine der Grundaufgaben der europäischen Institutionen sowie der Mitgliedstaaten. Im Zuge gelebter Solidarität auf dem europäischen Kontinent ist die Schaffung einer friedlichen Lebensumgebung für alle alternativlos.
Dazu muss schnellstmöglich der Rückzug aller russischen Truppen aus den völkerrechtlich anerkannten ukrainischen Gebieten erfolgen. Dieses Ziel muss oberste Priorität in der Außenpolitik der EU haben und von den Entscheidungsträger*innen konsequent verfolgt werden, um weiteres Leid zu vermeiden. Damit endlich Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland möglich werden, muss die Ukraine jedoch in eine Position der Stärke versetzt werden. Daher begrüßen wir die Lieferung von schweren Waffen aus Ländern der EU und weiterer demokratischer Staaten in die Ukraine. Die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine unterstreichen noch einmal, wie wichtig diese Waffenlieferungen für das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung des Landes sind. Wir fordern, dass die Ukraine so lange wie nötig militärisch, finanziell und humanitär durch die EU und ihre Verbündeten unterstützt wird.
Beitrittsperspektive für die Ukraine
Schließlich zeigt sich die Notwendigkeit eines EU-Beitritts der Ukraine. Dementsprechend müssen die Beitrittsperspektiven klar aufgezeigt werden. Der Beitritt ist auch von Seiten der Ukraine gewünscht und trifft in der Bevölkerung auf breite Zustimmung. Die Ukraine verteidigt nicht nur ihr eigenes Territorium, sondern auch die Sicherheit Europas. Außerdem verteidigt sie die Demokratie und die Werte Europas, zu denen sie sich schon seit mehreren Jahren – auch durch die Assoziierung mit der EU – bekennt. Dadurch gibt es nur eine logische Konsequenz, dass die Ukraine Mitgliedstaat der Europäischen Union wird.
Da aber die Ukraine nicht kurzfristig die Kopenhagener Beitrittskriterien erfüllen wird und ein Abweichen von ihnen die innere Stabilität und Kohäsion der EU gefährden würde, fordern wir, dass den Ukrainerinnen eine eigene Beitrittsperspektive ermöglicht wird. Mit dem langfristigen Ziel, die Ukraine zum vollwertigen Mitgliedstaat zu machen, sollen jetzt schon den Bürger*innen der Ukraine besondere Rechte gewährt werden. Dies betrifft:
- Freizügigkeit und dauerhafte Arbeitserlaubnis innerhalb der EU
- Niederlassungsfreiheit in der EU
- Das Recht, von EU-Botschaften im Ausland Beistand zu erhalten
So können die Ukrainer*innen unabhängig der russischen Bestrebungen bisherige Reformen rückgängig zu machen und zukünftige für den EU-Beitritt zu verhindern, die Rechte in Anspruch nehmen für die sie bereits kämpfen. Sie müssen demzufolge nicht auf Reformen warten, die durch den Krieg verzögert werden.
Gleichzeitig muss die EU den Beitrittsprozess der Staaten des Westbalkans, Georgiens und der Republik Moldau vorantreiben. Kein Land Europas sollte mehr unter dem Imperialismus Russlands leiden müssen.
Sanktionen und Entscheidungsfindung
Die im Juni 2022 verschärften Sanktionen gegen Russland begrüßen wir und sie müssen beibehalten werden. Die gemeinsam verhängten Sanktionen sind ein zukunftsweisendes Beispiel für die Stärke eines geeinten Europas – insbesondere im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir beobachten allerdings mit Sorge, dass diese Einigkeit gefährdet wird. Noch immer erhoffen sich einige Parteien in Europa, teilweise sogar mit Regierungsverantwortung, von Russland die Unterstützung für ihre innenpolitischen Ziele und antidemokratische Bestrebungen. Die Unterstützung der Ukraine und der Schutz Europas dürfen nicht darunter leiden, dass sich einige Politiker*innen von Putin ideologisch inspirieren lassen. Die Konsequenzen dieser Sympathien und der russischen Abhängigkeit stellen eine Gefahr fuhr die Entscheidungsfindung in Europa dar. Wieder einmal zeigt sich hier, wie schwach und anfällig das Vetorecht bei außenpolitischen Entscheidungen ist und dass ein qualifiziertes Mehrheitsvotum dringend erforderlich ist.
Implikationen des Kriegs auf die Wirtschaft und Energiepolitik in Europa
Parallel zum Angriff auf die Ukraine setzt Russland die Verknappung von Erdgas als Waffe ein, indem es die Gasversorgung aller europäischen Staaten, die an der Seite der Ukraine stehen, stark eingeschränkt hat. Hier zeigen sich die Fehler der jahrelangen Abhängigkeit von russischem Gas und daraus resultierende Erpressbarkeit, die auch die deutsche Regierung zu verantworten hat. „Wandel durch Annäherung“ und „Die Neue Ostpolitik“ waren zur Zeit des kalten Krieges der goldene Standard der Außenpolitik mit autoritären Staaten in Osteuropa. Doch seit dem Zerfall der Sowjetunion wandelte sich diese Strategie in unseren Beziehungen zu Russland in eine einfache Handelsstrategie. Spätestens etabliert durch die Regierung um Gerhard Schröder, setzte sich diese Politik unter den Regierungen von Angela Merkel fort. Obwohl östliche Partner innerhalb der EU vor Abhängigkeiten gegenüber der Politik des Kremls beständig warnten, ignorierte die deutsche Politik diese Stimmen. Dies war ein grauenhafter Fehler, da wir nun erkennen müssen, dass diese Abhängigkeiten wirklich bestanden und uns mit unseren östlichen Partnern in der EU entfremdete. Letztendlich waren die europäischen Energie- und Außenpolitiken geprägt von mangelndem Vertrauen in europäische Partner, sowie von unkoordinierten Alleingängen.
Auch deshalb sehen wir uns heute mit einer Energiekrise konfrontiert, die nicht nur die Industrie in Europa, sondern vor allem auch die Bürger*innen empfindlich trifft.
Eine europäische Antwort hierauf muss in gemeinsam koordinierten Einsparungsmaßnahmen liegen. Wir begrüßen daher die bisher dazu beschlossenen Maßnahmen und fordern ihre strikte und verlässliche Umsetzung.
Wir begrüßen ausdrücklich die deutschen und europäischen Bestrebungen, unsere Erdgasquellen zu diversifizieren. Wo immer möglich, müssen neue Energieabkommen mit demokratischen Staaten geschlossen werden, um uns aus der Abhängigkeit autoritärer Regime zu befreien.
Diese Krise verdeutlicht außerdem, dass eine effektive Energiewende dringend erforderlich ist. Nicht nur im Angesicht der Klimakrise findet sich die Zukunft in den erneuerbaren Energien. Die Gewinnung aus Wind, Sonne und Wasser muss ausgebaut werden. Dabei muss auch die Infrastruktur, insbesondere in Form der Energietrassen, in den Blick genommen werden. Diese große Zukunftsinvestition muss zu einem Gemeinschaftsprojekt der gesamten EU werden, da nur so eine sichere und unabhängige Energieversorgung gewährleistet werden kann.
Die Energiewende kann weiter nur gemeistert werden, wenn die schon bestehenden Richtlinien schneller und effizienter umgesetzt werden. Insbesondere im Strom- und Gasbereich besteht schon eine umfangreiche Regulierung, die allerdings von den Mitgliedstaaten nur schleppend realisiert wird. Verbraucher*innen wären bereits heute in Anbetracht der Krise wesentlich besser geschützt, wenn die Mitgliedstaaten ihren Pflichten zur Umsetzung der Richtlinien rechtzeitig und hinreichend nachgekommen wären. Es ist erforderlich, dass bei Verstößen die Vertragsverletzungsverfahren zügig durchgeführt werden. Außerdem muss für eine zügige und korrekte Umsetzung von Richtlinien ein stetiger Austausch zwischen der Union und den Mitgliedstaaten erfolgen, durch den Hindernisse frühzeitig erkannt werden. Über die Kommission gesteuerte best-practice-Austausche zwischen den Mitgliedstaaten sind dabei ein wertvoller Ansatz, von dem regelmäßig und bereits vor Ablauf der Umsetzungsfristen Gebrauch gemacht werden sollte.
Darüber hinaus offenbaren unter anderem die jüngsten Schäden an den Gas- und Ölpipelines in der Ostsee sowie die langfristige Desinformationskampagnen Russlands die Anfälligkeit der kritischen Infrastruktur Europas. Die JEF befürwortet daher die bestehenden Richtlinien der EU und NATO, die die kritische Infrastruktur in den EU- Mitgliedstaaten schützen sollen und fordert darüber hinaus eine enge Kooperation zwischen den Staaten für eine konsequente und koordinierte Umsetzung dieser Richtlinien.
Die Standhaftigkeit europäischer Werte und Ideale wird letztlich aufgrund einer von Russland ausgelösten Energiekrise auf die Probe gestellt. Deshalb ist es umso wichtiger, als Europäische Union zusammenzuhalten und uns nicht von den Aggressionen Russlands entzweien zu lassen. Die Sanktionen gegenüber Russland sind alternativlos und die Solidarität mit der Ukraine von höchster Bedeutung.