Bundeskongress, 20.10.2023 – 22.10.2023

Für Europawahlen nach dem partiellen Tandemsystem – unser Plan B für eine europäische Wahlrechtsreform

Beschluss im Wortlaut:

Aktuelles System der Europawahlen und seine Probleme

Nach dem aktuellen Europawahlrecht gibt es keine gemeinsamen Europawahlen, stattdessen wählen die EU-Bürger:innen mittels 27 nationaler Wahlen ihre Abgeordneten ins Europäische Parlament (EP). Die europäische Perspektive ist dadurch kaum sichtbar, obwohl es europäische Parteien gibt, die auch im Europäischen Parlament zusammenarbeiten. Dadurch spielen europäische Themen auch im Wahlkampf und in der europäischen Politik der nationalen Parteien nur eine untergeordnete Rolle.

Weiterhin trägt auch die degressiv proportionale Sitzverteilung zum Demokratiedefizit der EU bei, d.h. große Mitgliedsländer haben zwar absolut mehr Sitze im EP als kleine, aber relativ zu ihrer Bevölkerung gesehen, sind sie unterrepräsentiert. Dadurch zählt eine Stimme in einem kleinen Land deutlich mehr als in einem großen Land. Somit wird der Gleichheitsgrundsatz als elementarer Grundsatz demokratischer Wahlen verletzt. Die degressive Proportionalität sorgt aber dafür, dass kleine Mitgliedstaaten im EP nicht vollkommen marginalisiert werden können.

Da diese Probleme uns als JEF ein Dorn im Auge sind, unterstützen wir den Vorschlag des EPs für die Einführung transnationaler Listen. Wir müssen aber auch feststellen, dass dieser Reformvorschlag an der fehlenden Einstimmigkeit des Europäischen Rates zu scheitern droht.

Es ist daher nötig, über einen Plan B nachzudenken. Unser Vorschlag ist das partielle Tandemsystem, bei dem nicht alle EU-Mitgliedstaaten sich beteiligen müssen und das nicht durch Vetos einzelner Mitgliedstaaten blockiert werden kann.

Das partielle Tandemsystem – Schritt für Schritt

Oberste Priorität des Tandemsystems hat die Abbildung des gesamteuropäischen Wahlergebnisses. Dafür bilden jeweils alle Mitgliedsparteien einer europäischen Partei über Ländergrenzen hinweg eine transnationale Listenverbindung. Die Wählerin/der Wähler gibt dann einer Listenverbindung ihre/seine Stimme. Alle Wähler:innenstimmen werden zu einem europaweiten Gesamtergebnis zusammengerechnet und mit diesem wird die Sitzverteilung der europäischen Parteien im Europäischen Parlament bestimmt. Diese Parteiensitze müssen dann auf die festgelegten Sitzkontingente der Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Im Folgenden werden diese Schritte genauer erklärt:

Das partielle Tandemsystem ist ein doppelproportionales Wahlrecht, d.h. zwei Sitzverteilungen werden parallel abgebildet. Die eine Sitzverteilung ist das gesamteuropäische Wahlergebnis und die zweite sind die festgelegten Sitzkontingente der Mitgliedstaaten. Für ersteres bilden jeweils alle nationalen Listen einer europäischen Partei oder eines Parteienbündnisses eine transnationale Listenverbindung. Dies ist vergleichbar mit der bisherigen Bildung von Fraktionen im EP, allerdings gibt es für transnationale Listenverbindungen keine Mindestanforderungen. Mehrere nationale Parteien können sich derselben transnationalen Listenverbindung anschließen und mit getrennten Listen antreten, auch wenn sie aus demselben Mitgliedsland kommen. Um unfaire Vorteile zu verhindern, dürfen sich die Mitgliedsparteien einer europäischen Partei nicht auf mehrere transnationale Listenverbindungen aufteilen. Dabei ist es unerheblich, ob die Europäische Partei bereits offiziell von der Behörde für europäische politische Parteien und Stiftungen anerkannt ist oder durch Strukturen und Absprachen bzw. eigenständige Erklärung als solche durch eine zu einzurichtende europäische Wahlleitung zu erkennen ist. Da die transnationalen Listenverbindungen entscheidend für das europäische Gesamtergebnis sind, werden sie vor den nationalen Parteien auf den Wahlzetteln angegeben.

Nach der Wahl erfolgt die Ermittlung der Sitzverteilung in zwei Schritten: Als Erstes wird die gesamteuropäische Sitzverteilung bestimmt. Alle Stimmen aus allen Mitgliedstaaten werden dabei zusammengeführt und entsprechend ihrer europäischen Stimmenanteile erhalten die transnationalen Listenverbindungen Anteile an den Sitzen des Europäischen Parlaments. Alleinstehende nationale Parteien, die die europäische Sperrklausel (mindestens in Höhe der natürlichen Sperrklausel) überwinden, sammeln für die eine technische transnationale Listenverbindung Stimmen. Als Schutz vor Missbrauch werden auch transnationale Listenverbindungen, die über 70% ihrer Stimmen in einem Mitgliedsland bekommen haben, mit all ihren Stimmen der einen technischen transnationalen Listenverbindung zugerechnet.

Im zweiten Schritt wird die europäische Sitzverteilung der Listenverbindungen auf die Mitgliedstaaten unterverteilt. Hier muss nun nach Staaten unterschieden werden, die sich am Tandemsystem beteiligen und solchen die ein Opt-out haben. Für letztere werden die Sitzverteilungen wie bisher rein national bestimmt. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass eine transnationale Listenverbindung in den Opt-out-Ländern bereits mehr Sitze erhalten hat, als ihr europaweit zusteht, wird die gesamteuropäische Sitzverteilung erneut ermittelt unter Ausschluss dieser Listenverbindung und mit den übrig gebliebenen Sitzen. Eine ausgeschlossene Listenverbindung besetzt nur die Sitze, die sie in den Opt-out- Ländern erhalten hat. Solche Überhangmandate gibt es auch mit der derzeitige Rechtslage, das partielle Tandemsystem kann ihre Anzahl stark verringern, aber nur wenn sich alle Mitgliedstaaten beteiligen würden, wären sie gänzlich auszuschließen.

Zuletzt werden die noch offenen Sitze der gesamteuropäischen Sitzverteilung auf die Sitzkontingente der sich beteiligenden Mitgliedsländer verteilt. Diese Unterverteilung erfolgt so, dass die transnationalen Listenverbindungen möglichst dort Sitze erhalten, wo sie auch gewählt wurden. Tritt eine transnationale Listenverbindung in einem Mitgliedsland mit mehreren Parteilisten an, werden die in dem Land gewonnenen Sitze zwischen diesen weiter aufgeteilt. Da die degressive Proportionalität ausgeglichen wird, können nationale Teilergebnisse in den sich beteiligenden Mitgliedsländern nicht perfekt abgebildet werden. Oberste Priorität hat die Abbildung des europäischen Gesamtergebnisses. Die nationalen Sitzkontingente werden damit faktisch zu Quoten degradiert, die keinen Einfluss mehr auf die Zusammensetzung des europäischen Parlaments bezogen auf die europäischen Parteien haben.

Das Tandemsystem ist flexibel und kann beispielsweise um feste Geschlechterquoten erweitert werden (bei Teilnahme aller Mitgliedstaaten), sodass kein Geschlecht unter den Mitgliedern des EPs, den Sitzkontingenten der Mitgliedstaaten und der einzelnen europäischen Parteifamilien überproportional vertreten ist.

Unterstützend zur Durchführung des Tandemsystems sollte eine europäische Wahlleitung eingerichtet werden. Die staatliche Wahlkampferstattung sollte auf europäischer Ebene erfolgen, da alle Stimmen europaweit gleichwertig sind.

Das partielle Tandemsystem ist der beste Kompromiss zwischen Umsetzbarkeit, dem Prinzip der degressiven Proportionalität und dem Grundsatz der Wahlgleichheit und verbessert somit die Legitimation des Europäischen Parlaments.

Zusammenfassung: Welche Vorteile hat das partielle Tandemsystem?

  • Eine Wahl für ein geeintes Europa
  • Der demokratische Grundsatz der Stimmengleichheit wird endlich erfüllt – One person = One vote
  • Kleine Mitgliedstaaten bleiben garantiert relevant vertreten – Keine Marginalisierung
  • Europäische Parteien treten in den Vordergrund
  • Europäische statt nationale Themen bestimmen die Wahl
  • Durch gesamteuropäische Umfragen europäisiert sich die Berichterstattung
  • Minimaler Eingriff in bisheriges nationales Wahlrecht
  • Alle nationalen Parteien können innerhalb ihrer Listenverbindung mit eigener Liste antreten
  • Eine simple Wahl – Die Wähler:innen setzen nur ein Kreuz
  • Stärkt das Spitzenkandidat:innenprinzip

Forderungen

Wir fordern die Mitgliedstaaten, insbesondere die Bundesrepublik Deutschland, auf, das partielle Tandemsystem umzusetzen. Das partielle Tandemsystem würde maßgeblich zu dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Ziel eines einheitlichen europäischen Wahlrechts auf dem Weg der Weiterentwicklung der Europäischen Union zu einem föderalen Bundesstaat beitragen.

Wir fordern das Europäische Parlament auf, sich eindeutig zum Tandemsystem zu bekennen und die Umsetzung in den Mitgliedstaaten aktiv zu fördern.

Wir fordern den Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament auf, den europäischen Direktwahlakt zu ändern und das partielle Tandemsystem mit Opt-outs einzuführen. Sollten Mitgliedstaaten trotz Opt-out die Reform blockieren, sollte auch eine Einführung am Rat vorbei mittels zwischenstaatlichen Vertrags ins Auge gefasst werden. Dieser Vertrag würde dazu dienen, die nationalen Europawahlgesetze koordiniert im Sinne des partiellen Tandemsystems anzupassenund eine europäische Wahlleitung außerhalb der EU-Institutionen einzurichten.

Begründung

Die JEF Deutschland sollte das partielle Tandemsystem unterstützen, da es ein effektives Mittel sein kann, die europäische Perspektive bei Europawahlen zu stärken. Es ist durch die partielle Umsetzbarkeit ein Ziel, das wirklich von uns erreicht werden kann. Dieses doppelproportionale Wahlrecht steht auch in keinem Widerspruch zu anderen Vorschlägen der JEF, wie beispielsweise transnationalen Listen, sondern könnte deren Einführung sogar erleichtern, denn die Bindung nationaler Parteien zu bisher rein nationalen Europawahlen wird aufgeweicht. Für die Wählenden ist das Tandemsystem es sogar einfacher, da sie wie bisher ein Kreuz setzen und kein zweites für eine transnationale Liste. Der Aufbau der Wahlzettel ändert sich nicht, es stehen jetzt nur die Listenverbindungen der Europaparteien auf ihnen, weil wir diese wählen.

Die Idee des Tandemsystems ist nicht neu, wir können auf der Arbeit von Expert:innen und Erfahrungen aus Gebieten mit ihm aufbauen. 2006 führte der Kanton Zürich dieses Wahlrecht ein, nachdem das bisherige Verhältniswahlrecht mit Wahlkreisen zu großen Verzerrungen bei Wahlen geführt hatte und das Schweizer Bundesgericht es wegen des Bruchs des Wahlgleichheitsgrundsatzes als verfassungswidrig aburteilte.

Prof. Pukelsheim, der den Kanton maßgeblich an der Ausarbeitung des neuen Wahlrechts unterstützt hat, und Jo Leinen, Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen 2004-2009, stellen in einem Aufsatz dar, wie das Tandemsystem auf europäischer Ebene umgesetzt werden kann (https://mip.pruf.hhu.de/article/view/353/370). Allerdings gehen sie nicht auf die Möglichkeit ein, das Tandemsystem nur partiell einzuführen.

Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas haben Olivier Costa (Director of Studies at the European Political and Governance Studies Department of the College of Europe) und Pierre Jouvenat (UEF) im College of Europe Policy Brief #2.21 auch für die Einführung des doppelproportionalen Verhältniswahlrechts plädiert, da sie die Akzeptanz für die Einführung als hoch einschätzen. (abrufbar unter: https://www.coleurope.eu/system/files_force/research-paper/cepob-cofoe_2-21_costa_jouvenat_en.pdf?download=1)

Am 30.08.2023 haben wir ein Expertengespräch mit Prof. Pukelsheim und Prof. Meinel veranstaltet. Dabei konnten JEFer:innen aus ganz Deutschland Fragen stellen. Wir haben aus dem Gespräch mitgenommen, dass im besten Fall alle Mitgliedstaaten sich am Tandemsystem beteiligen sollten und auch dass die Nennung der Europaparteien auf den deutschen Wahlzetteln ein wichtiger erster Schritt sei. Eine Einführung am Europäischen Rat vorbei sei schwierig juristisch einzuschätzen. Dieser Weg sei in den europäischen Verträgen nicht vorgesehen, aber den Mitgliedstaaten würde bei ihren nationalen Europawahlgesetzen viel Spielraum zugestanden. Ein großer Vorteil des Tandemsystems sei, dass die europäischen Parteien in ihrer Vielfalt an Mitgliedsparteien an den Wahlen teilnehmen könnten.

Das Tandemsystem lässt sich am besten an einem einfachen Beispiel erklären:

Unsere vereinfachte EU besteht aus drei Ländern, die die großen, mittleren und kleinen Mitgliedstaaten repräsentieren, und zur Wahl treten drei Europaparteien an. Bisher werden den Parteienfamilien die Sitze im EP auf Basis ihrer nationalen Wahlergebnisse zugeteilt, beispielsweise erhält Partei A in den großen Mitgliedstaaten 135 der 360 Sitze, weil sie 45 der 120 Mio. Stimmen für sich gewinnen konnte.

Priorität hat die Abbildung des nationalen Wähler:innenwillens vor der Abbildung des europäischen Wähler:innenwillens, denn die europäische Sitzverteilung passt nur ungefähr zur Verteilung aller Stimmen. Mit dem „kompletten“ Tandemsystem dreht sich das um, d.h. wir ermitteln erst das europäische Gesamtergebnis und verteilen dieses so gut wie möglich auf die Mitgliedsländer:

Dabei müssen wenige Sitze, insbesondere in den Ländern wo sie nur knapp an eine Partei gehen würden, umverteilt werden (oft in den großen Mitgliedsländern). Priorität hat die Abbildung des europäischen Wähler:innenwillens vor der Abbildung des nationalen Wähler:innenwillens.

Das partielle Tandemsystem unterscheidet sich dann vom „kompletten“ dadurch, dass Mitgliedstaaten eine Opt-Out-Option gewährt werden kann, d.h. diese Mitgliedstaaten verteilen wie bisher ihre Sitze nach ihren nationalen Wahlergebnissen, während die sich beteiligenden dafür sorgen, dass europäische Gesamtergebnis stimmt. In unserem Beispiel beteiligen sich nur die großen Mitgliedsländer am Ausgleichsmechanismus:

Es ist immer erstrebenswert, dass sich möglichst viele Mitgliedstaaten beteiligen, damit der Ausgleich nicht durch wenige geschultert werden muss. Gleichzeitig ermöglicht diese Opt-Out-Möglichkeit, dass wir nicht auf das letzte Land warten müssen, um eine effektive Wahlrechtsreform durchzusetzen.

Wäre bei der Europawahl 2019 das partielle Tandemsystem genutzt worden, hätte sich eine Sitzverteilung ergeben können, wie sie auf der folgenden Seite zu finden ist (Bild nicht einfügbar). Der Rechner, mit dem dieses Ergebnis bestimmt wurde, kann unter https://hoffmanncl.shinyapps.io/PartialTandem/ aufgerufen werden. (Nur 25h pro Monat nutzbar, bitte sparsam benutzen. Ergebnisse können über den pdf-Drucker des Browsers abgespeichert werden. Keine mobile Ansicht verfügbar, bitte nur an einem Desktop-Gerät aufrufen.)

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