Bundeskongress, 05.10.2024
75 JAHRE JEF IM HERZEN VON EUROPA: VISION. REFORM. REALITÄT.
Beschluss im Wortlaut:
2024 beginnt für die JEF Deutschland ein Jubiläumsjahr. Vor 75 Jahren, vom 2. bis 4. September 1949, kamen auf der Wachenburg bei Weinheim rund 40 junge Menschen zusammen und gründeten den Bund Europäischer Jugend (BEJ), der sich im April 1957 in “Junge Europäische Föderalisten” umbenannte. Aufbauend auf dem föderalistischen Manifest von Ventotene, das bereits 1941 einen europäischen Bundesstaat als positiven Gegenentwurf zum Faschismus und Nationalismus skizziert, setzten wir uns schon früh aktiv und öffentlichkeitswirksam für unsere Vision ein. Gerade in den aktuellen Zeiten, in denen wir ein Erstarken von politischem Extremismus in ganz Europa erkennen können, möchten wir uns zu unserem Jubiläum auf diese Vision zurückbesinnen und diese durch notwendige Reformen Realität werden lassen.
Vision.
Die föderalistische Bewegung in Deutschland und Europa ist vor allem von den verheerenden Erfahrungen und den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges sowie die menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt. Insbesondere als JEF Deutschland tragen wir eine besondere Verantwortung zum #NieWieder. Unsere Vision ist die eines nachhaltigen, friedlichen und vereinten Europas, in dem jeder Mensch frei, gleich und in Würde leben kann. Damals wie heute gilt: Nur ein Europa, dass Nationalismus überwindet und an seine Stelle das föderale Europa setzt, das auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz beruht, kann diese Vision verwirklichen.
Reform.
Im Laufe des europäischen Integrationsprozesses erfuhr die europäische föderalistische Bewegung immer wieder größere und kleinere Rückschläge. Das föderale Europa, wie es im Manifest von Ventotene detailliert skizziert ist, ist daher bis heute noch nicht vollendet. Trotzdem halten wir weiter voller Überzeugung daran fest, und schließen uns den Worten Altiero Spinellis an: “Der Weg, der uns erwartet, wird weder bequem noch sicher sein. Wir müssen ihn jedoch beschreiten, und wir werden es tun!”
Obgleich das Europäische Parlament als Herzkammer der europäischen Demokratie sich über die Zeit mehr Rechte in der Gesetzgebung erkämpfte, liegt die Europäische Union weiterhin fest in der Hand der Mitgliedstaaten. Statt echter europäischer Demokratie dominieren nationale Strukturen die europäische Politikgestaltung und erhalten somit eine Perspektive am Leben, die einem echten Zusammenwachsen der europäischen Gemeinschaft entgegensteht. Dies bietet antieuropäischen, nationalen und extremistischen Weltbildern einen Nährboden und führt, wenn man ihnen nicht wirksam begegnet, mittelfristig zum Zerfall der Europäischen Gemeinschaft und damit zum Ende des in Frieden und Freiheit geeinten Europas.
So wertvoll und hart erkämpft das Erreichte in der Europäischen Union ist; es reicht bei Weitem nicht aus, wenn es darum geht, die gegenwärtigen Krisen und Kriege zu bewältigen. Es ist für die Zukunft eines geeinten friedlichen, freiheitlichen und demokratischen Europa alternativlos, dass aus unserer Vision des föderalen Europas endlich Realität wird.
Realität.
Halten wir aber fest: Europa ist auf dem Weg hin zum Europäischen Bundesstaat bereits weit vorangeschritten: offene Grenzen im Schengen-Raum, eine stetige Stärkung des Europäischen Parlaments, eine gemeinsame Währungsunion, ein offener Binnenmarkt, ein europäischer Gerichtshof und vieles mehr.
Doch unsere Vision einer echten europäischen Demokratie ist noch lange keine Realität. Denn dafür müssten unter anderem: (1) Der Rat der Staats- und Regierungschefs abgeschafft werden und die Richtlinienkompetenz auf die Europäische Kommission übergehen; (2) die Kommissionspräsident:in alleine vom Parlament und nicht mehr auf Vorschlag der 27 Staats- und Regierungschefs gewählt werden; (3) das Parlament die gleichen Rechte in der Gesetzgebung wie der Ministerrat bekommen und ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit transnationalen Listen eingeführt werden
Unsere Rolle als Junge Europäische Föderalist:innen ist dabei seit über 75 Jahren, diese und weitere notwendige Reformen einzufordern und deren Umsetzung mit Blick auf die Bedürfnisse junger Menschen in Europa kritisch zu begleiten.
Aus unserer Sicht muss Europa jetzt stattfinden und zwar mehr denn je, wenn wir die Krisen unserer Zeit bewältigen wollen. Damit unsere Vision Realität wird, fordern wir daher folgende Reformen:
1. Kein Raum für politischen Extremismus
Die Landtagswahlen in Ostdeutschland dieses Jahr haben der AfD große Zugewinne ermöglicht, in Thüringen ist sie sogar stärkste Kraft. Die AfD ist aber nicht einfach eine normale Partei. Sie ist eine Partei, die Wahlkampf mit Bürgerkriegsrhetorik betreibt und die Gesellschaft spaltet. Sei es Höckes “letzte evolutionäre Chance”, oder Chrupallas Aussage, die SPD gehöre endgültig auf den Schaffott. Es ist vor dem Hintergrund nicht verwunderlich, dass 1⁄3 der AfD-Anhängerschaft Gewalt gegen politische Gegner befürworten. Es ist daher notwendig, die AfD endlich als die Gefahr zu benennen, die sie ist. Als eine Partei, die um ihre eigenen Ziele zu erreichen, nicht vor körperlicher und psychischer Gewalt zurückschreckt. Als eine Partei, die den öffentlichen Diskurs mit Hass durchseucht. Als eine Partei, die mit allen Mitteln versucht die parlamentarische Demokratie zu untergraben. Einmal gewählt, setzt sie sich mit ihrem Programm weiter fest, wird scheinbar normalisiert, und kann gleichzeitig die demokratischen Institutionen weiter delegitimieren.
In diesem Rahmen sind wir als JEF jedoch tätig. Es ist daher unsere Pflicht als europäische Visionäre zukünftigen Europas, auszusprechen, was ist: Die Bundesrepublik sowie die Europäische Union werden angegriffen. Wir müssen daher die Aufklärungsarbeit über das Phänomen des politischen Extremismus verstärken, aber auch konkrete Forderungen an die Politik stellen. Wir brauchen mehr finanzielle Ressourcen für den Kampf gegen Faschismus, was auch bedeutet, die unabhängige demokratische Jugendarbeit gerade im ländlichen Raum stärker zu fördern. Denn überall dort, wo demokratische Kräfte Räume unbesetzt lassen, werden diese von demokratiefeindlichen Akteuren eingenommen. In anderen Worten: wenn der Jugendclub schließt, macht der Nazi ganz schnell einen auf. Klar jedoch ist auch, dass die parlamentarische Demokratie auch außerparlamentarisch verteidigt werden muss. Das bedeutet: Wir brauchen breite Bündnisse und müssen zur Not dahin gehen, wo der Kampf geführt wird.
Wir wollen schließlich ein Europa für alle erkämpfen. Unsere größten Waffen in dieser Auseinandersetzung sind zum einen das Wissen, welches bereits im Bundesprojekt Rechtsextremismus erarbeitet wurde. Denn Wissen ist das wirksamste Mittel gegen die Angst. Zum anderen müssen wir uns daran erinnern, dass unsere Vision eine Realistische ist. Wir wollen ein demokratisches Europa, das nicht in der Kompromissbildung zwischen nationalen Regierungen verfault, sondern in dem Politiker:innen verantwortlich sind, die von einem in einer einheitlichen Wahl gewählten europäischen Parlament kontrolliert und abgesetzt werden können. Ein Europa der Bürger:innen – das ist unser Angebot, während die Gegenseite mit Austrittsfantasien aus der EU dem britischen Weg folgen will.
2. Schutz, Integration und Repräsentation marginalisierter Gruppen
Mit dem Erstarken von politischem Extremismus in Europa geraten zahlreiche marginalisierte Gruppen aber auch die Zivilgesellschaft durch schrumpfende offene Räume zunehmend unter Druck.
Die Belange junger Menschen finden in der Politik zu wenig Gehör. Sie leiden unter Wohnungsnot, Inflation, Zukunftsängsten und einer Verschlechterung der mentalen Gesundheit.
Gleichzeitig ist die Gleichstellung der Geschlechter ein zentraler Wert der EU, und dennoch sind Gewalt gegen FLINTA* sowie ihre Benachteiligung bspw. auf dem Arbeitsmarkt und in Führungspositionen nach wie vor Realität. Noch immer berichten 33 % der Frauen in der EU, Opfer körperlicher und/oder sexueller Gewalt geworden zu sein, und mehr als die Hälfte hat bereits sexuelle Belästigungen erlebt. Eine verbindliche und einheitliche Gesetzeslage auf europäischer Ebene zum Schutz dieser marginalisierten Gruppen, gibt es nicht, da die Kompetenz darüber bei den Mitgliedstaaten verortet ist. Das muss sich ändern. Hinzu kommt, dass sexuelle und religiöse Minderheiten in verschiedenen Teilen Europas verstärktem Druck und Verfolgung ausgesetzt sind und geschlechtsabhängig Lohngefälle weiterhin zur Realität gehören. Diese Gruppen sind nicht ausreichendr in Entscheidungspositionen repräsentiert und können sich oft nicht in gleicher Weise für ihre Bedürfnisse einsetzen. Hierfür müssen Strukturen geschaffen werden, die es Menschen jeden Geschlechts und jeder kulturellen/religiösen Gruppe ermöglichen, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Als JEF Deutschland setzen wir uns entschieden für den Schutz dieser Gruppen ein, insbesondere für jüdisches Leben in Europa wie auch gegen Islamophobie und jede weitere Diskriminierung, und fordern die EU zu verstärkten Maßnahmen auf, um die zugrunde liegenden Machtstrukturen zu hinterfragen und den gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben.
3. Raum für Erweiterung und die Weiterentwicklung Europas
Wir befinden uns in der Entwicklung Europas in einem historischen Moment, weil im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine neue Erweiterungsperspektiven der Union diskutiert werden und neuen Wind in bestehende Debatten im Westbalkan kommen. Hierbei sind Entscheidungsträger:innen in den Mitgliedstaaten bereit, weitreichende Reformen zu unternehmen, die die Funktionalität einer größeren Union sicherstellen. Nicht so jedoch antidemokratische und extremistische Kräfte in Europa, die den Erweiterungsprozess stoppen und Europa zu einer Festung der Nationalstaaten zurück entwickeln möchten. Hier müssen wir als Föderalist:innen ansetzen, die Position einer vollendeten Europäischen Föderation auf dem gesamten Kontinent verteidigen und Reformdebatten begleiten. Dabei ist es uns besonders wichtig, dass die Perspektive junger Europäer:innen aus den Beitrittsländern strukturell in den Integrationsprozess mit einbezogen werden.
Als JEF Deutschland konnten wir uns durch unsere Bundesverbandsfahrten u.a. nach Albanien und in die Republik Moldau und regelmäßige Austausche mit unseren Partnersektionen im östlichen Europa selbst ein umfassendes Bild von den Interessen und Bedürfnissen junger Menschen in dieser Region verschaffen. Wir konnten so aus erster Hand uns von dem beeindruckenden Engagement lokaler Jugendstrukturen überzeugen, aber auch von den Herausforderungen und Schwierigkeiten, die diese Tag für Tag erleben.
Wir setzen uns daher dafür ein, dass lokale Jugendstrukturen im Dialog zwischen der Europäischen Kommission und den Regierungen der Beitrittskandidaten konsultiert und beteiligt werden und jugendpolitische Themen als integraler Bestandteil von Demokratieförderung die notwendige Beachtung finden. Darüber hinaus fordern wir eine substanzielle finanzielle Aufstockung der Förderprogramme, die sich an junge Menschen in diesen Regionen richten und zivilgesellschaftliche Strukturen vor Ort durch Capacity Building im Bereich von EU-Kompetenzen schon früh befähigen, ihre Interessen eigenständig und selbstbestimmt gegenüber europäischen Akteuren einbringen zu können. Um das europäische Selbstverständnis der heutigen Generationen junger Menschen zu fördern und nachhaltig zu integrieren, setzen wir uns zudem insbesondere für die stärkere Förderung internationaler Austauschprogramme und die Ausweitung des Erasmus+-Programms auf junge Menschen in diesen Ländern ein.
4. Klima; lebenswerte Zukunft für Alle; Ökologie als Priorität
Im Lichte der aktuellen ökonomischen und geopolitischen Krisen tritt die Klimakrise immer stärker in den Hintergrund. Fakt ist jedoch, dass der Klimawandel bereits jetzt verheerende Auswirkungen auf unser Zusammenleben hat. Anhaltende Extremphänomene wie Starkregen, Hochwasser, Stürme, Hitze, Brände, Kälte sind bereits jetzt Realität und werden sich langfristig noch weiter verstärken. Die rasante Erwärmung unseres Planeten führt bereits jetzt zu fast unbewohnbaren Regionen. Themen wie Wasser- und Ressourcenknappheit, Artensterben und Umweltverschmutzung haben einen direkte Auswirkung auf unseren Alltag und können zukünftig zu neuen (bewaffneten) Konflikten sowie Migrationsströmen und politischen Extremismen führen. So besteht die Gefahr, dass bestimmte Gruppen die ungleiche Verteilung von Ressourcen für ihre Zwecke nutzen, um ihre antidemokratische und illiberale Weltanschauung zu stärken. Klima und Ökologie müssen daher transversal gedacht werden und dürfen nicht auf das Individuum abgewälzt werden. Friedensförderung, Konfliktprävention, Migration und Sicherheit können, ebenso wie Wirtschaft, nicht ohne klimapolitische Aspekte gedacht und angegangen werden. Wir sind daher davon überzeugt, dass Klima und Ökologie strukturell auf europäischer Ebene transversal und föderal gedacht werden müssen und im Sinne einer lebenswerten Zukunft für alle zur Priorität gemacht werden sollte.
5. Geopolitische Rolle der EU
Das freie, vereinte und demokratische Europa, unserer Vision , wird nicht nur von politisch extremistischen Kräften innerhalb Europas sondern auch von außen stark attackiert. Schon lange vor der „full-scale-invasion“ russischer Streitkräfte in der Ukraine im Februar 2022 wurde deutlich, dass der russischen Regierung eine andere europäische Ordnung vorschwebt, die auf Repression, Gewalt und Unfreiheit beruht. Die Politik der Zugeständnisse und der Beschwichtigung gegenüber Russland zeigt sich heute in seinen verheerendsten Konsequenzen. Deshalb darf die Unterstützung für die Ukraine heute und bis zum Sieg der Ukraine nicht in Frage gestellt werden. Stattdessen muss sie verstärkt werden, damit sich die ukrainische Bevölkerung weiter gegen den russischen Aggressor zur Wehr setzen kann Denn Fakt ist, dass sie damit nicht zuletzt auch die Sicherheit der europäischen Gemeinschaft mit ihrem Leben verteidigen.
Leider zeigt sich die Notwendigkeit einer handlungsfähigeren EU nicht nur am Beispiel der Ukraine sondern in vielen weitern geopolitischen Konflikten in der Welt. Der wieder aufgeflammte Konflikt im Nahen Osten zwischen dem Staat Israel und der Terrororganisation Hamas oder der anhaltende Konflikt zwischen Azerbaijan und Armenien in unserer europäischen Nachbarschaft bringt die globale Sicherheitsarchitektur an einen Kipppunkt. Europa kann dabei seine Rolle nur dann wirkungsvoll ausüben, wenn das Einstimmigkeitsprinzip in Fragen der Außenpolitik abgeschafft und eine effektive europäische Außenpolitik eingesetzt wird, die auf Diplomatie, Zusammenarbeit und multilateralen Beziehungen beruht.
Die Idee eines europäischen Föderalismus wie er in der Vision der JEF skizziert wird, kann global Vorbild für die Schaffung und den Erhalt von Frieden sein. Indem Strukturen geschaffen werden, die mehr Beteiligung und mehr Machtverteilung fördern, können lokale und regionale Probleme bürgernah gelöst werden, während globale Herausforderungen und Konflikte auf europäischer Ebene angegangen werden können. Ein europäischer Föderalismus und langfristig Weltföderalismus kann dazu beitragen, Frieden in der Welt zu stärken und zu sichern. Hierzu muss die EU auch in der Lage sein, sich gegenüber anderen Großmächten behaupten und gemeinsam verteidigen zu können wie in unserer Vision eines föderalen Europas von Anfang an angedacht.