Bundeskongress, 05.10.2024
OFFENE GRENZEN STATT SCHLAGBÄUME: GEGEN DIE POLITISCHE INSTRUMENTALISIERUNG VON SCHENGEN
Beschluss im Wortlaut:
Der 16. September 2024 markiert einen neuen Tiefpunkt der deutschen Europapolitik. Mit der Einführung von Grenzkontrollen an sämtlichen deutschen Außengrenzen greift die Bundesregierung die Freizügigkeit als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union an.
Von Beginn an stand im Zentrum des im kommenden Jahr seit vierzig Jahren geltenden Schengener Grenzkodexes der fundamentale Grundsatz, dass die Freizügigkeit innerhalb der EU ein grundlegendes Prinzip darstellt, das nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden darf. Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen sollten demnach lediglich als letztes Mittel in besonderen Situationen eingesetzt werden.
Spätestens seit der sogenannten “Flüchtlingskrise” von 2015 ist dieser Grundpfeiler jedoch durch das Vorgehen der Mitgliedstaaten nicht mehr wiederzuerkennen: Unter Verweis auf immer neue Bedrohungslagen werden Grenzkontrollen regelmäßig wieder eingeführt und verlängert. Auch wenn es im Einzelfall durchaus legitime Gründe geben mag, so drängt sich doch in vielen Fällen der Eindruck auf, dass gezielt nach Vorwänden gesucht wurde und wird, um Grenzkontrollen zu rechtfertigen. Auch die im Zuge der COVID-19-Pandemie umfassend erfolgten Schließungen der Binnengrenzen führten zu einer weiteren Relativierung des Grundsatzes der offenen Grenzen und Freizügigkeit. Unter anderem aufgrund dieser neuen Herausforderungen wurde im Mai 2024 der Schengener Grenzkodex aktualisiert.
Wir beobachten, dass die Aktualisierung des Kodex aus dem Jahr 2024 nichts daran ändert, dass es häufig an einer klaren Relation zwischen Anlass und Umfang der Kontrollen sowie an einer fundierten Begründung des Bedarfs mangelt.
Diese Praxis steht im klaren Widerspruch zu den Bestimmungen des Kodexes, der Grenzkontrollen nur „unter außergewöhnlichen Umständen“, als „letztes Mittel“ und nur in dem Maße erlaubt, wie es „zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist“ (Art. 25 Abs. 1 und 2). Diese Vorgaben werden durch die Mitgliedstaaten systematisch missachtet.
Spätestens seit dem 16. September 2024 reiht sich auch Deutschland ein in die Staaten, die sowohl den Geist, als auch die rechtlichen Grenzen des Kodexes systematisch missachten. Und das unter Applaus von Rechtsextremist:innen sowie Populist:innen auf nationaler wie internationaler Ebene.
Angesichts dieser Entwicklungen und Trends, die wir jüngst vor allem – aber nicht nur – in Deutschland beobachten, sind wir als Junge Europäische Föderalist:innen Deutschland besorgt darüber, wie fahrlässig mit einer der größten Errungenschaften Europas umgegangen wird. Wir nehmen nicht hin, dass der Stellenwert des Schengener Grenzkodexes durch politische Entscheidungsträger:innen zunehmend verwässert und zum politischen Spielball gemacht wird!
Anknüpfend an unsere bereits 2016 gestartete Aktion #Don’tTouchMySchengen und unsere Beschlüsse zur Stärkung des Schengenraums aus den Jahren 2016 und 2019 stellen wir mit aller Deutlichkeit fest:
- Die in Deutschland angeordneten Grenzkontrollen sind populistische Symbolpolitik. Derzeit dienen die Kontrollen an den Binnengrenzen – insbesondere in Deutschland – dazu, den Anschein von Handlungsfähigkeit zu wahren. Die Gewerkschaft der Polizei stellt selbst nach wenigen Tagen frühzeitig als erstes Zwischenfazit fest, dass sie kaum ihre vorprognostizierte Wirkung zeigen. Mit den Kontrollen oder Forderungen nach ihnen will man dem gesellschaftlichen Druck nachgeben und politische Forderungen kommunizieren, ohne aber inhaltliche Entscheidungen zu treffen. Grenzkontrollen werden reflexartig und vorschnell als vermeintliche Lösungen präsentiert, bloß um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und politische Mehrheiten zu sichern. Dass der Bundesregierung als Antwort auf die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen im September 2024 nichts anderes einfiel, als der AfD nachzueifern, betrachten wir als Kapitulation. Nicht nur verlieren die proeuropäisch ausgerichteten und demokratischen Parteien sowie die von ihnen getragenen Regierungen national wie international an Glaubwürdigkeit, wenn sie populistische – nachweislich ineffektive – Vorschläge übernehmen. Sie drohen auch im Kampf gegen antidemokratische Kräfte zu unterliegen. Dies befeuert Spannungen und Ressentiments.
- Die Einführung von Grenzkontrollen ist keine Kompensation für andere politische Versäumnisse. Die Einführung von Grenzkontrollen und die Forderung nach ihnen verschleiern die eigentlichen Probleme und langjährigen politischen Versäumnisse. Die Entwicklung nachhaltiger und ganzheitlicher Lösungen wird so verhindert. Grenzkontrollen dürfen nicht eingeführt werden, um fehlende Ausstattung, Überforderung und mangelnde Vorbereitung bei nationalen Behörden auszugleichen. Zudem darf dem Versäumnis einer dringend notwendigen Erarbeitung und Vereinheitlichung eines menschenwürdigen Asylsystems sowie der fehlenden politischen Willenskraft hierfür nicht mit der vermeintlich wirksamen Symbolik der Kontrolle von Binnengrenzen begegnet werden.
Deshalb fordern wir:
- Die Bundesregierung muss alle Grenzkontrollen umgehend beenden. Sie hat für die entstandenen Unstimmigkeiten bei unseren europäischen Nachbarländern die Verantwortung zu übernehmen und jetzt wie zukünftig jeden nationalen Alleingang in Bezug auf gesamteuropäische Angelegenheiten zu unterlassen.
- Bekenntnis zu offenen Grenzen. Die Bundesregierung muss sich unmissverständlich und konsequent zur uneingeschränkten Freizügigkeit als Grundpfeiler der Europäischen Union bekennen. Sie muss ihren Koalitionsvertrag, in dem sie noch zum Ziel gesetzt hatte, die “Integrität des Schengenraumes wiederherzustellen” und sich mit ihren europäischen Partnern abzustimmen, umsetzen. Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland, aber auch in allen anderen Mitgliedstaaten, Grenzkontrollen normalisiert und sogar als positiv angesehen werden, bedarf es einer fundamentalen Neuausrichtung des Grundverständnisses von Grenzen und Offenheit in Europa.
- Bewahrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses. Bei jeder politischen und verwaltungsinternen Entscheidung braucht es einen unumstößlichen Ausgangspunkt: Grenzkontrollen müssen die Ausnahme bleiben und als solche benannt werden.
- Ausnahmegründe für Kontrollen dürfen nicht missbraucht werden. Die – auch nach den kürzlichen Änderungen des Schengener Grenzkodex fortbestehenden – vagen und weit gefassten Formulierungen der Ausnahmegründe für die Einführung von Grenzkontrollen dürfen nicht für nationale Agenden ausgenutzt werden. Ausnahmegründe für Grenzkontrollen dürfen nicht vorschnell angenommen, überdehnt,pauschalisiert oder inflationär angewendet werden. Beispielsweise einmal vorhandene sachlich gegebene Gründe für die zeitlich eng begrenzte Einführung von Grenzkontrollen, etwa die Olympischen Spiele in Paris, dürfen in der politischen Diskussion nicht zum Anlass genommen werden, um eine Fortdauer oder Neueinführung von Kontrollen zu fordern. Ein bloß abstraktes Gefährdungsrisiko rechtfertigt weder kurz- noch langfristige Grenzkontrollen.
- Die Anordnung von Grenzkontrollen durch Mitgliedsstaaten muss von einer Genehmigung durch die Europäische Kommission abhängig gemacht werden. Die aktuell bestehende bloße Mitteilungspflicht gegenüber der Kommission ermöglicht nationalen Missbrauch. Es muss bereits vor der Einführung von Grenzkontrollen objektiv überprüft werden, ob diese im Einklang mit europäischen Recht stehen und tatsächlich gerechtfertigt sind. Insbesondere stellt die Prüfung durch die Kommission als Hüterin der EU-Verträge und neutrale Instanz sicher, dass Grenzkontrollen nicht für nationale Agenden instrumentalisiert werden.
- Konsequente und frühzeitige Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren. Die Europäische Kommission muss im Fall der missbräuchlichen Anordnung von Grenzkontrollen die darin liegende Verletzung der EU-Grundfreiheit der Beschluss des 71. Bundeskongress der Jungen Europäischen Föderalist:innen Deutschland e.V.
Freizügigkeit konsequent verfolgen und den EuGH anrufen. Insbesondere darf sie hierbei nicht davor zurückschrecken, sich in nationale gesellschaftspolitische Debatten einzumischen.
Der geringe Stellenwert, den die Mitgliedstaaten und insbesondere jüngst auch die Bundesregierung der Errungenschaft der offenen Grenzen beimessen, zeigt für uns als Junge Europäische Föderalist:innen einmal mehr die Notwendigkeit der Schaffung einer Europäischen Verfassung. Diese muss die Freizügigkeit als elementares Grundrecht enthalten. Nur so würde der Freizügigkeit in Europa die Bedeutung zukommen, die sie für jede:n einzelne:n in Europa tatsächlich bereits aktuell hat. Denn unser Europa baut Brücken, keine Grenzzäune. Unser Europa steht für Solidarität und Zusammenarbeit, für gemeinsame Lösungen statt nationaler Alleingänge. Und: Unser Europa darf nicht die wildesten Träume von Faschist:innen und Populisten wahr werden lassen.
abgestimmt am 05.10.2024, in Frankfurt am Main