Gemeinsames Statement l Scholz’ Prager Europarede: Reformvorschläge bleiben hinter Ambitionen für ein föderales Europa zurück

Ventotene, 31 August 2022

Kernpunkte:

  • Die Prager Europarede von Bundeskanzler Scholz vom 29. August ist ein willkommener Aufruf zur institutionellen Reform der EU.
  • Scholz’ Ansatz manifestiert jedoch Intergouvernementalismus und vermisst konkrete Schritte, europäische Demokratie zu stärken und in einen föderalen Bundesstaat zu investieren. 
  • Um das zu erreichen, braucht es weitreichende Vertragsveränderungen, die auf den Empfehlungen der Bürger*innen aus der Konferenz zur Zukunft Europas aufbauen.

Man kommt nicht umhin, die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 mit der Sorbonne-Rede von Präsident Emmanuel Macron im Jahr 2017 zu vergleichen. Angesichts der ernsten politischen Lage in Europa sind die Erwartungen, die an den Bundeskanzler einer stark pro-europäischen Bundesregierung des bevölkerungsreichsten Mitgliedstaates der EU gestellt werden, entsprechend hoch.  Dass Scholz überhaupt Prag als Ort dieser wichtigen Rede gewählt hat und damit die Zugehörigkeit mittelosteuropäischer Staaten in die Europäische Gemeinschaft unterstreicht, ist sehr begrüßenswert, ebenso wie die sehr grundsätzliche Hervorhebung Europas als Friedensprojekt, das es zu erneuern gilt. 

“In diesem Sinne begrüßen wir als Junge Europäische Föderalist*innen auch die ausdrückliche Forderung nach institutionellen Reformen und Vertragsänderungen”, kommentiert Clara Föller, Bundesvorsitzende der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF)  Deutschland.  “Doch auch wenn Scholz hier eine Reihe sehr berechtigter und dringend notwendiger Reformen aufzeigt, weist die Prager Europarede auch einige zentrale Mängel auf”, fährt sie fort. “Es muss jetzt darum gehen, den zivilgesellschaftlichen Kern der Europäischen Union selbst zu stärken und Bürger*innen und insbesondere jungen Menschen mehr Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse einzuräumen”. 

Es ist richtig, das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Europäischen Union ist die Achillesferse der EU, wenig schränkt unsere Handlungsfähigkeit so offensichtlich ein, wie der Rat. Unbeantwortet bleibt jedoch weiterhin die Frage, wie die Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten überwunden werden kann, um überhaupt eine Basis für institutionelle Reformen zu schaffen. Selbstverständlich ist und bleibt es auch weiterhin die Unterstützung der Ukraine einerseits im Kampf gegen die russische Invasion, andererseits aber auch in ihrem Wunsch, selbst Mitglied der Europäischen Union zu werden. Ebenso ist es entscheidend Moldawien und Georgen eine glaubwürdige Beitrittsperspektive in Aussicht zu stellen und gleichzeitig neue Energie in die Erweiterung des westlichen Balkan zu investieren. Darüber hinaus geht Scholz bemerkenswert detailreich auf so zentrale Themenbereiche ein wie die Verteidigung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien in den EU-Mitgliedstaaten, eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik oder weitere Anstrengungen im Kampf gegen die Klimakrise.

Dennoch ist das Bild, das Scholz in Prag von der Zukunft Europas zeichnet, bemerkenswert schemenhaft. Wer ein Anknüpfen an den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP oder gar die Vorstellung einer Scholz’schen Vision für die Zukunft Europas erwartet hatte, wurde enttäuscht. Denn auch wenn Scholz eindeutig wörtlich für institutionelle Reformen wirbt, überrascht er doch mit einer erschreckend intergouvernmentalen Perspektive, wie diese Reformen ausgestaltet sein sollten. 

“Wir müssen uns klar machen, dass jegliche nationale Anstrengungen zur Bewältigung der Probleme, vor denen Europa derzeit steht, nur einen sehr begrenzten Nutzen haben können”, kommentiert Clara Föller und weiter: “Europäische Zusammenarbeit, wie sie von Scholz mehrfach gefordert wird, darf kein Synonym für einen sich weiter manifestierenden Intergouvernmentalismus sein. Vielmehr gilt es aus der Logik nationalstaatlicher Entscheidungsprozesse auszubrechen und in ein gemeinsames europäisches Interesse zur Stärkung der europäischen Demokratie selbst zu investieren.” 

“Wenn wir es mit der Zukunft Europas wirklich ernst meinen, dann ist es nicht (nur) die verstärkte zwischenstaatliche Zusammenarbeit, die wir anstreben. Es ist Zeit, Europa zu erneuern, um effektivere und demokratischere Entscheidungsprozesse zu erreichen, Entscheidungsprozesse, die die Stimme der Bürger*innen und eine zentrale Rolle des Europäischen Parlaments respektieren”, fügt Antonio Argenziano, Vorsitzender der Young European Federalists Europe (JEF Europe), hinzu.  

Damit also die Stimme der EU-Bürger*innen in vollem Umfang Gehör finden kann, braucht es Vertragsveränderungen, die sich aus Empfehlungen aus der Konferenz zur Zukunft Europas ableiten. Das betrifft die Abschaffung des nationalen Vetorechts bei allen Entscheidungen. Vor allem aber sollte das Europäische Parlament auch durch ein legislatives Initiativrecht gestärkt werden, ebenso wie durch die Einführung transnationaler Listen zur Europawahl und die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre. Das Spitzenkandidatenprinzip muss bei der Ernennung der oder des Präsident*in der Europäischen Kommission respektiert werden und nicht zuletzt muss ein besserer Schutz der Grundprinzipien der EU gewährleistet sein, damit die Europäische Union eine Wertegemeinschaft bleibt.

 

Über JEF Europe 

Die Jungen Europäischen Föderalisten (JEF Europe) sind eine politische Jugendorganisation, die sich für die Schaffung einer demokratischen, europäischen Föderation als Garant für Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einsetzt. JEF Europe setzt sich für eine echte europäische Staatsbürgerschaft und die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union ein und strebt eine gerechtere und solidarischere Gesellschaft auf dem europäischen Kontinent an. Die 1972 gegründete Organisation hat mehr als 10.000 Aktivist*innen, die in über 250 nationalen, regionalen und lokalen Sektionen in 31 Ländern organisiert sind. Die Ideale und Ziele der JEF Europe sind im Manifest von Ventotene, im Politischen Programm und in den von den satzungsgemäßen Organen verabschiedeten Resolutionen festgelegt.

 

Über JEF Deutschland

Die Jungen Europäischen Föderalisten Deutschland (JEF Deutschland) sind ein überparteilicher und überkonfessioneller Jugendverband, der sich seit über 70 Jahren für ein demokratisches, bürgernahes, föderales und friedliches Europa einsetzt. Sie verstehen sich als Anwält*innen der europäischen Idee und fördern die Verbreitung des europäischen Bewusstseins in der Gesellschaft – insbesondere bei jungen Menschen zwischen 14 und 35 Jahren. Die JEF Deutschland wurde 1949 gegründet und umfasst rund 4.000 Mitglieder in Landesverbänden in allen Bundesländern und mehr als 100 Kreisverbänden in ganz Deutschland. Das Manifest von Ventotene, das Hertensteiner Programm vom 21. September 1946 und das Politische Programm sowie eine Vielzahl von Beschlüssen der satzungsgemäßen Organe bilden die Grundlage unserer politischen Arbeit.

 

Frühere Positionierungen zu EU-Reformen

 

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State of the Union Address 2021: Von uns leider nur 2 von 5 Sternen

Heute vor einer Woche hielt Kommissionspräsdentin Ursula von der Leyen ihre Rede zur Lage der EU, #SOTEU, im Europaparlament in Straßburg. Angesichts der ernsten Lage in der die EU sich derzeit befindet, hätten wir uns stellenweise mehr Mut und Ambitionen gewünscht, das machte auch unsere Bundesvorsitzende Clara Föller in einem Erstkommentar in der Europäischen Kommission in Deutschland klar.

Aber von vorne: Die Kommissionspräsidentin nimmt sich in ihrer Rede fast alle Politikbereiche einmal vor: sie lobt die Erfolge der EU im Umgang mit der Pandemie (Stichwort gemeinsame Impfstoffbeschaffung und Digital Health Certificate), hebt auch die historische Bedeutung des #NextGenerationEU Wiederaufbauplans hervor, stellt in diesem Zusammenhang auch für die Zukunft die Notwendigkeit öfter auf Eigenmittel zu bauen in Aussicht und kündigt an, in der EU auch in Sachen Digitalisierung nachzulegen (Stichwort “europäisches Chips-Ökosystem”).
Einen besonderen Fokus legt sie diesmal auf die Außenpolitik und spricht etwa von einer European Defence Union und einem European Intelligence Service. Da die EU auf dem Weg zu außenpolitischer Handlungsfähigkeit noch einiges an Nachholbedarf hat, begrüßen wir diese Vorschläge. Darüber hinaus blieb sie jedoch an vielen Stellen sehr unkonkret und wenig ambitioniert. Mit Blick auf das auswärtige Handeln und den Umgang mit autoritären und diktatorischen Regimen hätten wir uns deutlichere Worte und Bekenntnisse gewünscht, gerade auch angesichts der Entwicklungen in #Belarus und #Afghanistan. Hier versteckte die Kommissionspräsidentin sich weitestgehend hinter der Meinung des Rats, die – wie wir leider wissen – oft nur der kleinste gemeinsame Nenner der Mitgliedstaaten ist. An vielen Stellen in ihrer Rede betonte vdL auch die Bedeutung junger Menschen, gerade auch für die Zukunft und die “Seele” Europas. Gerade weil wir dieser Aussage sehr beipflichten würden, haben wir aber konkrete Unterstützungsmaßnahmen vermisst, die sich wirklich der aktuell auch stark durch die Corona-Pandemie verschärften Situation junger Menschen annehmen und ihnen für die Zukunft mehr Beteiligungsmöglichkeiten einräumen. Zwar ist die Ankündigung 2022 zum “Jahr der Jugend” auszurufen symbolisch sehr schön, offen aber bleibt inwiefern das der Situation junger Menschen helfen wird. Hier hoffen wir auf weitere, zeitnahe Unterstützungsmaßnahmen. Und auch was das vorgeschlagene Jugendprogramm ALMA angeht, so schließen wir uns der Kritik vieler anderer Jugendverbände an, die in der Ausarbeitung dieser Idee gerne im Vorfeld mit Rat und Tat zur Seite gestanden hätten. Schließlich fehlte uns außerdem der Hinweis auf den großen Reformstau in Brüssel, gerade auch in Sachen europäischer Demokratie und damit verbunden das Bekenntnis, die #CoFoE zu einer Reformwerkstatt zu machen. Alles in allem vergeben wir für die #SOTEU2021 daher nur 2 von 5 Sternen.

Falls ihr unsere Live-Erstkommentierung nochmal nachsehen wollt, hier entlang.

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Statement zur Einigung über die Konferenz zur Zukunft Europas: Nicht nur reden, Europa machen!

Nach monatelangen Verhandlungen haben sich das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Rat der EU nun endlich auf eine gemeinsame Erklärung zur Konferenz zur Zukunft Europas geeinigt und diese feierlich am 10. März 2021 unterzeichnet. Die Erklärung bildet die politische Grundlage für die Konferenz, die am 9. Mai 2021 beginnen und groß angelegte Konsultationen in allen Mitgliedstaaten zur Reform der EU und ihrer Politiken umfassen soll. Die #CoFoE sollte eigentlich am 9. Mai 2020 beginnen, wurde aber aufgrund der COVID19-Pandemie und der fehlenden interinstitutionellen Einigung über ihren Vorsitz und ihr Anspruchsniveau verschoben.

Die Erklärung zur Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, denn viel ist von den ursprünglichen Ambitionen der Konferenz als einem substantiellen Instrument, durch das Europäer*innen die Zukunft der EU gestalten würden können, nicht geblieben. Trotzdem freuen wir uns, dass nach einem Jahr langwieriger Verhandlungen, Blockaden und Fehlschlägen die Konferenz nun endlich beginnen kann und nehmen auch einige positive Aspekte in der Gemeinsamen Erklärung wahr.

So bekennen sich die Institutionen etwa zu einer bürgernahen Umsetzung der Konferenz, die ausdrücklich junge Menschen und die Zivilgesellschaft mit einschließen soll. Zwar bleibt die Erklärung hinsichtlich der Frage recht vage, wer genau damit gemeint ist und wie konkret diese einbezogen werden sollen. Der angekündigte Feedback-Mechanismus kann aber, wenn ernsthaft umgesetzt, ein wirkungsvolles Instrument sein, sicher zu stellen, dass die Ergebnisse der Konsultationen einen tatsächlichen Einfluss auf die Konferenz haben werden. 

Kritisch sehen wir hingegen vor allem die gekürzte Dauer der Konferenz: Statt der angedachten zwei Jahre sollen zentrale Debatten über die Zukunft der Europäischen Union nun innerhalb von neun Monaten geführt werden. Das ist zu wenig. Das Startdatum wurde (verständlicherweise) vor dem Hintergrund der globalen Covid-19 Pandemie verschoben, doch an dem Enddatum im Frühjahr 2022 wird starr festgehalten. Wieder einmal, so scheint es, werden nationale Interessen über europäische Belange gestellt. Als europäische Föderalist*innen kritisieren wir diese Prioritätensetzung stark, denn sie schaden der Glaubwürdigkeit dieser Konferenz. Deshalb fordern wir die Bürger*innen,die Zivilgesellschaft und die Entscheidungsträger*innen dazu auf, ihre Arbeit im Rahmen der Konferenz über den Stichtag im Frühjahr 2022 hinaus fortsetzen, und zwar so lange, bis die Erwartungen der Europäer*innen erfüllt sind. Wir werden nicht stillschweigend zulassen, dass die Konferenz zu einer weiteren Zuhörübung verkommt! Die Bundesvorsitzende der JEF Deutschland Clara Föller sagt dazu:

“Die vorliegende Einigung bleibt hinter unseren Erwartungen zurück, ein echter deliberativer Prozess, der Europäer*innen ein wirkliches Mitspracherecht an ihrer Zukunft eröffnet, sieht anders aus. Als europäische Föderalist*innen geben wir aber nicht so einfach auf. Wir begreifen die Konferenz als eine Möglichkeit, um dringende Themen zu besprechen und längst überfällige Reformen anzustoßen.

Wir fordern daher: Nicht nur reden, Europa machen!” 

Seit dem Scheitern des Verfassungskonvents folgt eine Krise der nächsten und Politik wie auch Zivilgesellschaft betonen fortlaufend, dass Europa – die EU – den Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht gewachsen ist. Doch nur darüber zu sprechen, hilft nicht. Es braucht substanzielle Veränderungen. Damit die EU den in sie gelegten Erwartungen gerecht werden kann, muss sie handlungsfähiger werden. Dazu braucht sie entsprechenden Kompetenzen: Was kann auf Länderebene geregelt werden, was muss auf europäischer Ebene koordiniert werden? Die vereinzelten Bemühungen der letzten Jahre gingen zwar in die richtige Richtung, waren aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine starke EU baut auf einem sturmfesten demokratischen Fundament. Wir müssen die Rechte und Pflichten der europäischen Bürger*innen stärken und ihr Mitspracherecht an Europäischer Politik auch auf EU-Ebene ausbauen. Wir brauchen eine verfassungsgebende Versammlung, die eine föderale europäische Verfassung entwirft – und als JEF setzen wir uns weiterhin dafür ein, die Konferenz als Sprungbrett zu nutzen, um dieses Ziel zu erreichen.

Wichtige Punkte:

  • Wir begrüßen die Verpflichtung, die Konferenz bürgernah zu gestalten, und dabei insbesondere die ausdrückliche Erwähnung von jungen Menschen sowie der Zivilgesellschaft in der gemeinsamen Erklärung.
  • Wir begrüßen auch die Aufnahme einer strukturierten Feedback-Schleife zwischen den Empfehlungen der Bürger*innen und der Konferenz.
  • Wir sind besorgt, dass eine neunmonatige Konferenz Gefahr läuft, zu einer reinen inhaltsleeren und ergebnislosen Gesprächsrunde reduziert zu werden.
  • Wir fordern alle Europäer*innen auf, im Rahmen der Konferenz so lange mitzuwirken, bis all ihre Erwartungen erfüllt sein werden, wenn nötig auch über die angegebene Frist hinaus.
  • Wir setzen uns weiterhin für ein föderales Europa und eine echte europäische Verfassung ein. Die Konferenz kann ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel sein.
  • Nicht nur reden, Europa machen!
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Bürgerräte als demokratisches Instrument – eine innovative, aber nicht die beste Lösung

Gestern war der Auftakt des zweiten bundesweiten Bürgerrats, der unter dem Thema “Deutschlands Rolle in der Welt” tagt. Konkret geht es dabei darum, dass zufällig ausgeloste Bürger*innen in den Bürgerräten zu bestimmten Themenfeldern Empfehlungen erarbeiten, das sogenannte “Bürgergutachten”, die dann dem Bundestag vorgelegt werden.  

Bürgerräte sind ein demokratisches Experiment, das wir bereits aus anderen Ländern in Europa kennen. Wir finden: Bürgerräte sind eine innovative, aber nicht die beste Lösung für die Herausforderungen, vor denen Demokratien heute stehen. 

Befürworter*innen von Bürgerräten sehen in solchen Konsultationsformaten die Möglichkeit, festgefahrene Verhandlungen, in denen das Parlament gegenüber der Regierung nicht weiterkommt, zu durchbrechen. Außerdem sollen Bürgerräte dabei helfen, Menschen, die sich vom politischen Prozess ausgeschlossen fühlen, einzubinden. Deshalb sollte man sie ausprobieren und daraus lernen. 

Kurzfristig können Bürgerräte möglicherweise politisch interessierten Bürger*innen Politik näher bringen und Einblicke in die Ideen von Menschen erhalten, die sich sonst weniger politisch vernehmbar äußern können. Genau hier liegt jedoch auch die Gefahr einer möglichen Frustration, nämlich, wenn die mitunter mühsam erarbeiteten Empfehlungen aus welchen Gründen auch immer von den politischen Entscheidungsträger*innen nicht angenommen werden. Strebt man also die langfristige und nachhaltige Stärkung von Demokratien und darin demokratischer Teilhabe und Funktionsfähigkeit an, können Bürgerräte wenn, dann nur ein konsultativer Zusatz zu den bestehenden demokratischen Strukturen sein. Gerade im Engagement vor Ort, in Parteien, Vereinen und Verbänden, das (fast) jedem*r Bürger*in offen steht, wird Demokratie Tag für Tag erlebt, erlernt und weitergegeben. Dieses Engagement bildet das Fundament einer wehrhaften Demokratie. Bürgerräte erreichen dies nur bedingt, da sie kein wiederkehrendes Engagement ermöglichen. 

Damit also Demokratie mit ihren Werten und Prinzipien auch zukünftig verstanden und gelebt wird, kommt es vor allem darauf an, die Integrationsfähigkeit von Parteien, Vereinen und Verbänden zu erhöhen. Das gelingt, indem solche demokratische Strukturen vor Ort beispielsweise durch die Einbindung in politische Entscheidungen gestärkt werden. Zugleich dürfen die Parteien, Vereine und Verbände nicht müde werden, selbst stets inklusiver und damit letztlich auch repräsentativer zu arbeiten.

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Statement des JEF-Bundesvorstands zum Jahreswechsel 2020/2021

Wenn die Uhr heute um Mitternacht das neue Jahr verkündet, markiert dies sogleich das Ende eines in jeder Hinsicht turbulenten und historischen Jahres 2020. Selten zuvor war unser Zusammenhalt als demokratische Gesellschaft so gefordert, wie unter den Erfahrungen der Corona-Pandemie. In diese Zeit fiel außerdem die sechsmonatige deutsche EU-Ratspräsidentschaft sowie die Brexit Übergangsphase. Zentrale Sinn- und Zukunftsfragen sind mit den Herausforderungen der letzten Monate nur umso deutlicher geworden. Daher werden uns diese im nächsten Jahr und vermutliche weit darüber hinaus beschäftigen. Wie steht es um unser demokratisches Verständnis, wenn Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis angezweifelt und demokratische Werte in Frage werden? Welche Themen sind uns in Anbetracht der Erfahrungen im Jahr 2020 wirklich wichtig und was wollen wir lieber hinter uns lassen? Und wie soll die Zukunft Europas aussehen? Ein Begriff, der in den letzten Monaten immer wieder betont wurde, war der der Solidarität. Solidarität als Antwort auf die durch die Pandemie hervorgerufenen Sorgen und Ängste. Solidarität als das Versprechen, dass wir vor allem in Krisenzeiten #BesserZusammen sind, als jede*r für sich alleine. 

Aber was bedeutet Solidarität eigentlich? Sprachwissenschaftlich leitet sich der Begriff u.a. aus dem französischen Wort solidaire ab, was nicht nur mit „gemeinschaftlich“ oder „gegenseitig“ sondern auch mit „gemeinsam verantwortlich“ übersetzt wird. Im Kontext Europas bedeutet Solidarität also, dass man eine gemeinsame Verantwortung nicht etwa für sich selbst, sondern für den jeweils anderen und damit für die Gemeinschaft trägt. Gelebte Solidarität – das ist die Überzeugung, dass man einander hilft, dass man zusammenhält, dass man für den anderen da ist. Angesichts einer Pandemie, die nicht nur die Gesundheit der Menschen weltweit bedroht, sondern auch den Alltag vieler massiv veränderte, gewann die Bedeutung dieses gemeinschaftlichen Miteinanders im Sinne einer besseren Zukunft für alle, in Europa und weltweit, immens an Bedeutung. 

In ihrer Neujahrsansprache 2020 betonte die deutsche Bundeskanzlerin, dass es “Deutschland auf Dauer nur dann gut geht, wenn es auch Europa gut geht”. Wie wahr diese Feststellung ist, zeigte sich in den vergangenen Monaten sehr deutlich. In den ersten Tagen und Wochen, in denen die Corona-Pandemie vor allem in Italien verheerende Folgen hatte, drängten allzu schnell nationale Reflexe die bis dato hoch gelobte europäische Solidarität zur Seite. Anstelle regionaler und bedarfsorientierter Kooperationen standen pauschale Grenzschließungen und protektionistische Maßnahmen, etwa in der Verteilung medizinischer Schutzausrüstung. Dennoch lernten die Staats- und Regierungschefs aus diesen anfänglichen Fehlern und konzentrierten sich verstärkt auf gemeinsame Anstrengungen zur Bewältigung der Krise. Auch wenn die Ergebnisse der letzten Monate zweifelsohne das Resultat einer institutionenübergreifenden Gesamtanstrengung sind, sollte hier der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in ihrer Rolle als Motor und Moderatorin zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten eine nennenswerte Bedeutung in den politischen Entscheidungen der letzten Monate zugesprochen werden. 

Bereits im Juli verhandelten die EU-Mitgliedstaaten ein in der Geschichte bisher nie dagewesenes Gesamtpaket von 1,8 Billionen Euro, das neben dem Wiederaufbaufonds #NextGenerationEU auch die Mittel für den neuen Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 beinhaltet. Neben der finanziellen Ausstattung dieses Gesamtpakets, bringen zusätzlich der Eigenmittelbeschluss sowie der Konditionalitätsmechanismus zwei wichtige Neuerungen in das Finanzpaket, die beide für sich erste Schritte in Richtung einer effizienteren und stärkeren EU darstellen. 

  • Der Eigenmittelbeschluss, der neben der temporären Erhöhung des Eigenmittelanteils der Mitgliedstaaten vor allem auch die Aufnahme von Krediten zur Finanzierung des 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds beinhaltet, gilt als wichtiger Schritt hin zu einer Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. 
  • Gleichzeitig schafft die Einigung auf den Konditionalitätsmechanismus, der die Vergabe von EU-Mitteln an die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien knüpft, ein ebenso wichtigen ersten Schritt, der der EU Handlungsfähigkeit in der Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien geben kann. Insbesondere bei letzterem aber steht fest, dass es auch hier noch viel zu tun bleibt. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission muss uns eine Warnung sein, bezeugt er doch, dass elementare rechtsstaatliche Prinzipien, wie die Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit und der Schutz von Minderheiten europaweit zunehmend unter Druck geraten. Wollen wir diesen Entwicklungen entgegenwirken und in den europäischen Mitgliedstaaten eine wirkliche Veränderung erzielen, braucht es mehr. Damit die EU die Einhaltung der in Artikel 2 TEU verankerten Werte durchsetzen kann, müssen ihr dafür auch effektive Maßnahmen an die Hand gegeben werden.

Die mittel- und langfristigen Folgen der Krise werden aber erst noch sichtbar werden. Während das finanzielle Gesamtpaket dazu dient, vor allem die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern, müssen nun ebenso dringend die sozioökonomischen Auswirkungen in den Blick genommen werden. Gerade junge Menschen, die aufgrund ihrer Lebenssituation etwa als Berufsanfänger*innen besonders unter der Krise leiden, gilt es besonders zu schützen und ihnen Chancen zu bieten, damit diese nicht zu einer weiteren verlorenen Generation werden. Dies muss eine der zentralen Aufgaben der beiden Trio-Präsidentschaftspartner Portugal und Slowenien sein.  

Ein weiterer Hoffnungsschimmer in der Bekämpfung der Coronapandemie liegt in den gemeinsamen Anstrengungen auf europäischer Ebene im Gesundheitssektor. Mit dem Ziel einer gemeinsamen Impfstrategie wurde der EU-Kommission, ungeachtet fehlender europäischer Kompetenzen in der Gesundheitspolitik, die Koordinierung von Beschaffung, Zulassung und Verteilung des ersten Impfstoffs übertragen. Und auch über die Grenzen Europas hinaus bemühen sich EU-Mitgliedstaaten sowie EU-Institutionen gemeinsam als Team Europe ihrer Verantwortung in der Welt, gerade auch gegenüber Ländern des globalen Südens, nachzukommen, um eine gerechte Bekämpfung der Pandemie zu erreichen.  

Auch in Sachen Klima wurden wichtige Erfolge erzielt. So kam es etwa mit der Einigung der Länder auf die Senkung der Treibhausgasemissionen auf 55% (gegenüber dem Jahr 1990) bis zum Jahr 2030 zu einem wichtigen Meilenstein in der Bekämpfung des Klimawandels. Jetzt aber gilt es, umgehend Maßnahmen und Strategien zu entwickeln, diese Ziele auch tatsächlich zu erreichen. 

Mit Blick auf eine angekündigte Reform der Asyl- und Migrationspolitik bleibt der dargelegte Vorstoß eines Asyl- und Migrationspakts an vielen Stellen stark hinter den Erwartungen zurück. Während eine langfristige Strategie, die ebenfalls auf dem Gedanken europäischer Solidarität bauen muss, noch immer in weiter Ferne scheint, erfordern die katastrophalen Zustände in den Geflüchtetenlagern an den EU-Außengrenzen und die Not der schutzsuchenden Menschen jedoch unmittelbares Handeln. Das Gebot der Menschenwürde steht über allem anderen. Hier dürfen die EU-Mitgliedstaaten sich nicht länger hinter festgefahrenen Verhandlungen verstecken. 

Wenige Tage vor Ablauf der Frist am 31.12.2020 gelang es schließlich auch beim Thema Brexit auf einen Minimalkonsens bauenden Vertrag zu beschließen, und so das Schreckensszenario eines No Deal abzuwenden. Diesen Deal zu haben, ist ein wichtiger Erfolg für ein weiterhin friedliches und freundschaftliches Miteinander, Wohlstand und einen fairen wirtschaftlichen Umgang miteinander. Dennoch fehlen dem Abkommen zentrale Kooperationsvereinbarungen, etwa im Bereich Erasmus+. Als Junge Europäische Föderalist*innen wissen wir zu einem Großteil aus eigenen Erfahrungen, wie zentral der Austausch mit jungen Menschen aus anderen Ländern und Regionen für interkulturelle Verständigung und damit letztlich auch für einen nachhaltigen Frieden ist. Dass ausgerechnet dieses bildungspolitische Förderprogramm, das in besonderer Weise die Freundschaft zwischen Europäer*innen innerhalb und außerhalb der EU stärkt, nicht Teil des Deals ist, bedauern wir zutiefst. Gleichzeitig werden wir uns dafür einsetzen, dass es weiterhin zu einem Austausch zwischen jungen Menschen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich kommen kann. 

Europa steht an einer wichtigen Wegmarke. Das vergangene Jahr war uns allen als Europäer*innen eine schwierige Prüfung, an deren Ende heute die Erkenntnis über den Mehrwert gemeinschaftlichen Handelns aber auch die Notwendigkeit grundlegender Reformen in der EU steht. Lasst uns diese Erkenntnis ins nächste Jahr weitertragen. Übersetzen wir die Erfahrungen und Lehren der letzten Monate in politische Schlussfolgerungen. Nutzen wir die gegenwärtige Aufbruchstimmung als Blaupause, um ehrlich, konstruktiv und im demokratischen Streit, die Zukunft Europas gemeinsam zu gestalten. 

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