Statement des Bundesvorstands zu den Ergebnissen der Europawahl 2024
Europa hat gewählt. Besonders in Deutschland wurden die Ergebnisse von vielen mit Schrecken und Sorge wahrgenommen – doch sie sollten uns nicht völlig überraschen. Vorwarnungen über den bevorstehenden Rechtsruck und die Zunahme antieuropäischer Antidemokrat:innen gab es mehr als genug. Diese Ergebnisse müssen daher erneut ein Weckruf sein. Das geeinte Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn sich Demokrat:innen aller Länder jetzt vereinen und es entschlossen und mutig gegen alle verteidigen, die es zerstören wollen. Dies gilt in Brüssel, Straßburg und den europäischen Hauptstädten, aber auch vor Ort, auf Marktplätzen, in Schulen, an Stammtischen und auf dem Fußballplatz. Europa wird durch seine Bürger:innen gelebt. Verlieren wir sie, verlieren wir Europa.
In ganz Europa haben rechtsextreme Parteien an Stimmen gewonnen und stellen nun fast ein Drittel der Sitze im Europäischen Parlament. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit des Parlaments und dessen Einfluss auf die europäische Politikgestaltung. Viele wichtige und wegweisende Entscheidungen für die Zukunft der Europäer:innen – wie etwa beim Klimaschutz, der Migration, dem Abbau von Ungleichheit und dem europäischen Haushalt – könnten nun blockiert werden. Auch die in der letzten Legislaturperiode angestoßenen Reformen, die für das Bestehen der EU zwingend notwendig sind, stehen auf der Kippe. Zudem steht die Zukunft der Ukraine sowie die Erweiterungsbemühungen Moldaus, Georgiens und des Westbalkans auf dem Spiel.
Die veränderten Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament werden spürbare Auswirkungen auf die Politik, den Alltag und das Zusammenleben vieler Europäer:innen haben. Dies gilt besonders für junge Menschen, die darauf angewiesen sind, dass die politischen Entscheidungsträger:innen ihre Belange berücksichtigen. Beispiele für die veränderten Mehrheitsverhältnisse sind Gesetzesvorhaben wie das Recht auf Nichterreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeiten oder zusätzliche Klimaziele, um bis 2050 klimaneutral zu sein. Diese Vorhaben könnten durch die neuen Mehrheiten stark gebremst, die Entscheidungsfindung erschwert und im schlimmsten Fall blockiert werden. Das betrifft auch die Einberufung eines Europäischen Konvents, die von Kommission und Parlament im Nachgang der Konferenz zur Zukunft Europas gefordert wurde.
Der Rechtsruck betrifft jedoch nicht nur das Parlament. Auch die Europäische Kommission wird zwangsläufig einen Rechtsruck erleben, da die Kommissar:innen von den Regierungen der Mitgliedstaaten vorgeschlagen werden, in denen viele eurokritische Parteien mitregieren oder sogar stärkste Kraft sind. Die entsendeten Kommissar:innen werden daher stärker aus einem antieuropäischen, in Teilen rechtsextremen Lager kommen als bisher. Dies wird Auswirkungen auf die Politik und die Gesetzesentwürfe der Kommission haben, die aktuell als einzige Gesetzesvorschläge einbringen kann.
Die Europawahlen sind außerdem Vorbote dessen, was uns auf Ebene der nationalen Wahlen in den nächsten Jahren erwarten könnte. Die Neuwahlen des Parlaments in Frankreich könnten zu einer Regierungsbeteiligung des rechtsextremen Rassemblement National führen. Dies könnte direkten Einfluss auf die Entscheidungen im Europäischen Rat und die Besetzung der EU-Spitzenpositionen haben. Auch der deutsch-französische Motor, der bereits jetzt mühsam stottert, könnte vorerst ganz zum Erliegen kommen – ein fatales Signal nach 61 Jahren deutsch-französischer Freundschaft.
Mit Blick auf Deutschland ist die AfD mit 16 % bundesweit die zweitstärkste Kraft geworden – das gilt für die Wähler:innengruppen von 16-59 Jahren. Wahlsieger unter den Erstwähler:innen und jungen Menschen unter 30 sind vor allem kleine Parteien wie Volt. Dies zeigt, dass junge Menschen sich und ihre Interessen von den etablierten Parteien nicht ausreichend wahrgenommen und repräsentiert fühlen. Statt sich in Debatten um die Nutzung von Social Media oder die Infragestellung der Wahlalterabsenkung zu verlieren, sollten diese Parteien sich selbstkritisch fragen, wo man junge Menschen in den letzten Jahren verloren hat und wie man sie zurückgewinnen kann. Die Antwort auf diese Frage findet sich in zahlreichen Studien und Stellungnahmen von Jugendverbänden der letzten Jahre.
In Anbetracht der Stärke der rechtsextremen Kräfte in Europa fordern wir ein klares demokratisches Bündnis gegen die Fraktionen EKR und ID sowie gegen mögliche Bündnisse von antidemokratischen Parteien wie der AfD, die noch keiner Fraktion zugeordnet sind. Gerade jetzt gilt es, die politischen Grabenkämpfe, die allzu oft aus einer nationalen Logik heraus geführt werden, hinter sich zu lassen und geeint und kompromissbereit die europäische Einheit und ihre Zukunft zu sichern.
Die Europawahl brachte jedoch auch einige erfreuliche Erkenntnisse. So blieb die Wahlbeteiligung in ganz Europa mit 51 % auf dem Niveau von 2019, und in Deutschland konnte sie dank der großen Aktivitäten der Zivilgesellschaft sogar auf 64 % im Vergleich zu 61 % im Jahr 2019 gesteigert werden. Mit über 400 Sitzen gibt es außerdem eine deutliche demokratische Mehrheit im Europäischen Parlament. In Ungarn sah sich die europakritische Fidesz-Partei mit starken Stimmverlusten an Viktor Orbans Konkurrenten Péter Magyar konfrontiert. Das sollte uns Hoffnung machen und stärker in den Vordergrund gerückt werden.
Die Wahlergebnisse zeigen vor allem eins: Europa und europäische Themen müssen viel mehr im Alltag der Europäer:innen verankert werden. Dazu braucht es eine umfassende Medienberichterstattung und europäische Debatten auf politischer Ebene, die sich losgelöst von nationaler Politik an Inhalten orientieren. Wir brauchen endlich umfassende Wahlreformen. Europawahlen dürfen keine “second order” Wahlen sein. Denn die Folgen sind deutlich geworden und haben Auswirkungen auf ganz Europa. Es braucht eine Stärkung formaler und non-formaler europapolitischer Bildungsangebote und mehr grenzüberschreitende Austausche. Klar ist, dass eine aktive Zivilgesellschaft etwas bewegen kann. Das hat sie bei den Wahlen deutlich bewiesen. Sie ist der Garant für ein europäisches und demokratisches Bewusstsein der Bürger:innen und somit letztlich für den Erhalt der europäischen Idee selbst. Ihre Förderung ist eine Investition in die Zukunft Europas.
Jetzt gilt es, zusammenzustehen und gemeinsam die Demokratie für uns alle und für unsere Zukunft zu stärken und zu verteidigen. Doch das geht nur, wenn alle und vor allem Entscheidungsträger:innen auch ihren Teil dazu beitragen und bei dem Versuch, Mehrheiten zu bilden, nicht mit rechtsextremen Parteien kokettieren.