Ein starkes und wichtiges Bekenntnis aber leider nur Visiönchen für Europa

Kommentar zur Rede von Angela Merkel zur Zukunft der EU im Europäischen Parlament

Ein glaubhaftes, deutliches Bekenntnis zur richtigen Zeit

Angela Merkel lässt in ihrer Rede zwar erneut konkretere visionäre Reformvorschläge vermissen, trifft aber absolut den richtigen Ton. Sie stellt die besondere Bedeutung von Solidarität und Toleranz als zentralen Teil der „europäischen DNA“ heraus und bezieht damit klar Stellung zu zwei der am meisten diskutierten Begriffe der europäischen Zukunft. Man kann applaudieren, wenn sie gleich im ersten Teil ihrer Rede sehr deutlich – wenn auch nicht namentlich – kritisiert, dass sich einige Mitgliedstaaten langsam aber sicher von der Gemeinschaft des Rechts und der Einhaltung der allgemeinen Menschenrechte verabschieden. Es ist so richtig wie auch dringend nötig, dann auch einmal gegenüber den europäischen Partnern einzugestehen, dass Deutschland in einigen Bereichen auch kein Vorreiter europäisch verstandener Solidarität ist und war, beispielsweise in der Asyl- und Migrationspolitik vor 2015. Der gegenseitige Respekt, der gerade auf dem europäischen Kontinent mit seinen Weltkriegen und gescheiterten Versuchen multilateraler Zusammenarbeit, so wichtig ist, gebietet natürlich Zurückhaltung. Man wünscht sich in diesem Moment aber, dass Angela Merkel auch vor der Europawahl den Mut hat, diese Selbstkritik genauso deutlich in Deutschland und die Kritik am gemeinschaftsschädigenden Verhalten einiger Mitgliedstaaten genauso deutlich diesen gegenüber zu äußern. Sie würde damit – als eine der wenigen verbliebenen pro-europäischen, nationalen Spitzenpolitiker*innen in Europa – ein deutliches und wichtiges Zeichen setzen.

Solidarität und Toleranz sind die richtigen Schwerpunkte – eine konkrete Schwerpunktsetzung auf die großen innenpolitischen Herausforderungen würde dazu noch besser passen          

Die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf Außenpolitik, Wirtschaftspolitik und Asyl- und Migrationspolitik in einer solch wichtigen Rede ist problematisch. Nur weil es vermeintlich einfacher ist oder der amerikanische Präsident und andere gerade einen guten Anlass bieten, dürfen sich die europäischen Mitgliedstaaten bei den großen Fragen des sozialen Europas, eines weiterhin rechtsstaatlichen, demokratischen Europas oder eines jugendgerechten Europas nicht wegducken. Natürlich ist es richtig und wichtig, in der Außenpolitik stärker zusammenzuarbeiten und eine echte gemeinsame europäische Armee längst überfällig. Die Europäische Union muss gestärkt werden, wenn sie gegen andere, aufstrebende Staaten, die alles andere als die Werte, die wir teilen, vertreten, außenpolitisch erfolgreich sein will. Die europäischen Mitgliedstaaten wären aber auch gut daran beraten – auch wenn es noch mühsamer ist – ihr Inneres zu stärken und damit eine nachhaltige Gemeinsamkeit in Europa zu schaffen. Auf das Äußere zu schauen und als Abwehrreflex Gemeinsamkeit zu suchen, wird auf lange Sicht zu einem Verlust des inneren Zusammenhalts und Schwächung der die Europäer*innen verbindende gemeinsamen Werte und Erfahrungen führen.

Deshalb ist es allerdings gut und gerade vor der Europawahl 2019 so wichtig, dass Angela Merkel das Europa der Solidarität und Toleranz als das einzig zukunftsfähige Europa ausruft und zum emotionalen, visionären Schwerpunkt ihrer Rede macht. Auf diese klare Vision und die Leidenschaft, mit der sie sie sichtbar vertritt, wird es vor der Europawahl ankommen. Gewählt und diskutiert wird in Europa leider immer noch national. Nur, wenn auch nationale Spitzenpolitiker*innen deutlich für diese positive, pro-europäische Lösung aktueller Probleme eintreten, werden deshalb Nationalismus und Egoismus – wie es Angela Merkel richtig wünscht – zukünftig keine Chance in Europa haben. Diese neue deutliche Leidenschaft für eine europäisch verstandene Solidarität, die Angela Merkel beispielsweise 2015 glaubhaft zeigte, muss man zwar als zu spät kritisieren. Sie tritt in ihrer Rede aber deutlich dafür ein und damit auch offensiv gegen populistische Anti-Europäer*innen, nationale Scharfmacher und Zukunftspessimisten an – was bei vielen anderen nationalen Politiker*innen in Europa und auch in Merkels Parteifamilie leider längst nicht mehr der Fall ist und deshalb Unterstützung verdient.

Starke, wichtige Worte – die angekündigten visionären, konkreteren Reformvorschläge sollten jetzt folgen

Die inhaltlichen Vorstellungen bleiben dabei jedoch im Ungefähren. Hier erhofft man sich von einer deutschen, glaubhaft für Europa streitenden Bundeskanzlerin mehr Konkretes. Zumal Banken-Union, europäische Digitalsteuer, Vision einer echten gemeinsamen europäischen Armee, Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, Stärkung der Partnerschaften mit afrikanischen Staaten oder die Forderung nach nationaler Kompetenzgabe zur Schaffung eines europäischen Grenzschutzes nicht neu sind. Bei vielen Dingen tut sich die deutsche Regierung schwer, eine wirkliche Vorreiterrolle einzunehmen. Der französische Präsident musste lange warten auf eine solche, mit Visiönchen gespickte Rede und wartet aber auch danach nun noch immer auf konkretere, visionäre Reformvorschläge, die die EU so dringend braucht.

Es ist deshalb zu hoffen und zu fordern, dass Deutschland und Frankreich tatsächlich, wie von Angela Merkel versprochen, im Dezember solche konkreten gemeinsamen Vorschläge vorlegen. Das wäre das dringend benötigte, starke Signal zur zwar schon später, aber vor der Europawahl noch richtigen Zeit. Es wäre, wie Jean-Claude Juncker im Kommentar nach der Rede sagte, der Moment, an dem Angela Merkel die ihr auch zurecht zugeschriebene Eigenschaft als Proeuropäerin mit konkreten, visionären Reformvorschlägen untermauern könnte.

Ein starkes und wichtiges Bekenntnis aber leider nur Visiönchen für Europa

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