65. Bundeskongress in Halle (Saale), 13.10.18

Mehr Verbindlichkeit der Europäischen Säule sozialer Rechte

Beschluss im Wortlaut:

Ausgangslage

Die Globalisierungsprozesse der vergangenen Jahrzehnte haben in vielen EU-Mitgliedsländern zu weitreichenden Flexibilisierungsprozesse am Arbeitsmarkt und Reformen nationaler Sozialversicherungssysteme geführt. Diese haben für einige Beschäftigte Nachteile oder erhebliche Brüche in ihren Erwerbsbiografien mit sich gebracht. Gewohnte Lebensverhältnisse wurden mitunter in Frage gestellt und Neuerungen haben individuelle wie gesellschaftliche Herausforderungen aufgezeigt.

Reaktion der EU

Mit der Präsentation der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) hat die Europäische Kommission einen ersten Schritt getan, um den sozialen Zusammenhalt in Europa weiter zu stärken. Genannt seien an dieser Stelle beispielhaft das Recht auf allgemeine und berufliche Bildung sowie auf lebenslanges Lernen. Beide sollen Kompetenzen von Arbeitnehmer*innen gegen Werteverfall und damit gegen Arbeitsplatzverlust in einem sich stetig verändernden Arbeitsmarkt etwa durch Digitalisierung absichern. Ein anderes Beispiel ist das Recht auf ein angemessenes Mindesteinkommen, welches ein würdevolles Leben in alle EU-Mitgliedsstaaten ermöglichen soll. Viele weitere Rechte sind in den zwanzig Grundsätzen der ESSR niedergeschrieben.

Position der JEF und Kritik an ESSR

Wir begrüßen die Initiative der Europäischen Kommission ausdrücklich und halten sie für einen geeigneten Weg, den Zusammenhalt der Menschen in Europa zu stärken und den Wohlstand aller nachhaltig zu mehren. Wir sehen aber auch, dass die ESSR einige Defizite aufweist.

Erstens sind die von der Europäischen Kommission vorgelegten Regelungen und zwanzig Grundsätze zu einem sozialen Europa wenig verbindlich, rechtlich nicht bindend und daher nicht einklagbar. Dies bedeutet, dass Länder, die in den Vorschlägen einen zu starken Eingriff in ihre nationale Souveränität sehen, die Regelungen nicht umsetzen müssen. Sie könnten sich dadurch Wettbewerbsvorteile, beispielsweise in Form eines niedrigeren Lohnniveaus, gegenüber anderen europäischen Staaten verschaffen. In letzter Konsequenz würde dies dazu führen, dass kein EU-Mitgliedsland die Regelungen umsetzt, um als Wirtschaftsstandort nicht vollständig an Attraktivität zu verlieren.

Zum Zweiten ist die ESSR in erster Linie ausgerichtet auf die Mitglieder der Eurozone, kann jedoch auf weitere, teilnahmewillige EU-Mitgliedsländer übertragen werden. Diese Argumentation leuchtet vor dem Hintergrund der besonderen Gegebenheiten der Eurozone zwar ein, birgt aber auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Sie schafft eine Teilung innerhalb der EU und suggeriert, das Vorhandensein eines sich weiter entwickelnden Kerneuropas und einer Peripherie, die in bestimmte Entscheidungen nicht mehr einbezogen wird. Es besteht die Gefahr, dass sich gerade in diesen Ländern die Ablehnung gegenüber jeglichen Integrationsschritten manifestiert.

Drittens ist das „Social Scoreboard“, welches im Zuge der ESSR eingeführt wurde und den Fortschritt der Umsetzung der zwanzig Grundsätze in den einzelnen Ländern überwachen soll, zu kritisieren. Zwar zeigt es für alle EU-Mitgliedsländer die Entwicklung verschiedener sozialpolitischer Indikatoren auf, geht allerdings mit keinerlei Konsequenzen einher, wenn ein Mitgliedsland eine durchgehend negative Entwicklung nicht verhindert. Zwar ist anzuerkennen, dass es sich bei diesem Instrument in Form eines „Reporting-Systems“ um ein anerkanntes menschenrechtliches Instrument handelt und durchaus zu Verbesserungen der menschenrechtlichen Lage führen kann. In der EU sollte die Überprüfung der Einhaltung sozialer Rechte jedoch über ein konsequenzloses „Reporting-System“ hinausgehen.

Forderungen

Vor dem Hintergrund dieser Kritik fordern wir, dass die Grundsätze der ESSR bindend und dementsprechend einklagbar sein müssen. Zweitens sollen die Regelungen auf alle EU-Mitgliedsländer angewandt werden. Dies stärkt nicht nur die Weiterentwicklung der gesamten EU im sozialen Bereich, sondern auch den Zusammenhalt der Länder untereinander. Drittens ist es im Sinne der konsequenten Zielerreichung notwendig die Einklagbarkeit der sozialen Rechte der ESSR sicherzustellen. Dadurch werden nicht die Europäische Union, sondern alle Mitgliedstaaten angehalten, die sozialen Rechte der ESSR konsequent umzusetzen. Damit würde die soziale Dimension der Europäischen Union realisiert zum unmittelbaren Nutzen alle*r europäische*r Bürger*innen. Zudem fordern wir die Schaffung einer EU-Arbeitsmarktbehörde unter Einbeziehung des EURES (Europäisches Portal zur beruflichen Mobilität) und europäischer Tarifpartner.

 

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