Bundesausschuss, 12.03.22
Für europäische Geschlechtergerechtigkeit
Beschluss im Wortlaut:
In Deutschland, Europa und überall auf der Welt sehen sich Frauen, Lesben, inter Personen, nicht-binäre Menschen, trans Personen und agender Personen (FLINTA) zahlreichen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen ausgesetzt. Wir stehen als demokratischer Jugendverband für die Gleichstellung aller Menschen ein und wollen daher für europäische Geschlechtergerechtigkeit eintreten. Dementsprechend möchten wir in diesem Antrag auf die Lebenswirklichkeit eben dieser Menschen aufmerksam machen, indem wir ökonomische, politische und soziale Gerechtigkeit fordern.
Ökonomische Gerechtigkeit
Die Corona-Pandemie hat erneut verdeutlicht, wie fragil die Lage der FLINTA auf dem Arbeitsmarkt ist und dass sie in den systemrelevanten Berufen deutlich die Mehrheit bilden. Das Weltwirtschaftsforum (WEF) stellt fest, dass die Corona-Pandemie die Gleichberechtigung um Jahrzehnte zurückgeworfen hat. 136,5 Jahre soll es laut dem WEF noch dauern, bis die Gleichberechtigung der FLINTA weltweit erreicht wird. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) hat festgestellt, dass 2,2 Millionen Frauen während der Coronakrise ihren Job verloren haben, und dass Frauen ebenfalls hauptsächlich an der unbezahlten Care-Arbeit sowie am Homeschooling der Kinder beteiligt waren. Für Arbeitnehmer*innen bedeutet dies entweder eine Doppelbelastung oder eine Zurückstellung beruflicher Ambitionen. In der Covid-Pandemie wurde darüber hinaus ein signifikanter Anstieg der partnerschaftlichen Gewalt gegen Frauen festgestellt, wobei die Dunkelziffer noch deutlich höher sein dürfte.
Auch in anderen Bereichen legt die Pandemie Diskriminierung aufgrund des Geschlechts offen, indem FLINTA stärker als sonst benachteiligt werden. Laut dem Statistischen Bundesamt verdienen Frauen beispielsweise in Deutschland im Schnitt 18% weniger als Männer. In Europa liegt der Durchschnitt bei 14,1%. In gut bezahlten Positionen sind FLINTA besonders unterrepräsentiert. In europäischen Unternehmen beträgt ihr Anteil an Führungspositionen 37%. Um die Lebensstandards der FLINTA in der EU zu verbessern, müssen europaweite Mindeststandards eingeführt werden, an denen sich die EU-Mitgliedstaaten orientieren müssen.
Unterschiedliche Standards gibt es auch im Hinblick auf die Elternzeit. Aufgrund der unzureichenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung sind FLINTA in vielen europäischen Staaten häufig dazu gezwungen, über die Elternzeit hinaus und ohne angemessene finanzielle Anerkennung die Kinderbetreuung zu übernehmen.
Eine besonders große Belastung stellt in vielen Teilen Europas außerdem die Rentenarmut dar, von der FLINTA fast überall stärker betroffen sind. Außerdem liegt der Rentenbetrag von Frauen in ganz Europa durchschnittlich 30% unter dem von Männern.
Daraus ergeben sich für uns folgende Forderungen:
- Stärkung des EIGE,;
- Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den Geschlechtern;
- gleicher Lohn für gleiche Arbeit sowie allgemeine Stärkung von FLINTA in der Berufswelt;
- Angleichung der Elternzeit;
- Verringerung des Einkommens- und Rentengefälles;
- Förderung der Erwerbsbeteiligung von FLINTA;
- Finanzielle Anerkennung der Care-Arbeit;
- Schutz vor Ausbeutung; und
- Förderung der Frauen in Führungspositionen und in den Vorständen von börsennotierten Unternehmen.
Politische Gerechtigkeit
Die Repräsentation von FLINTA in der Politik hat sich zwar über die letzten Jahre hinweg verbessert, jedoch ist die Teilhabe von FLINTA in der Politik noch lange nicht gleichberechtigt. So hat sich im EU-Parlament der Anteil von Frauen auf 40,4% erhöht, in den meisten europäischen Ländern ist der Anteil jedoch deutlich geringer. Lediglich Schweden schafft es mit einem Frauenanteil von 49,6% zu einem nahezu paritätischen Parlament. In allen anderen EU-Ländern sind FLINTA in den Parlamenten unterrepräsentiert, dies meistens sogar sehr deutlich. Dies zeigt, dass nicht nur die EU, sondern auch alle Mitgliedstaaten weiter unerlässlich der Benachteiligung von FLINTA entgegenwirken müssen.
Neben der politischen Teilhabe der FLINTA muss auch ihre europäische zivilgesellschaftliche Partizipation weiter gestärkt werden. Es ist essentiell, dass FLINTA mehr Einfluss auf Entscheidungsprozesse nehmen können. Hierfür muss die EU zusammen mit den Mitgliedstaaten einstehen und zu einer Veränderung der Strukturen beitragen, sodass FLINTA eine Chance auf gleichberechtigte Teilhabe erhalten.
Daraus ergeben sich für uns folgende Forderungen:
- Stärkung der zivilgesellschaftlichen Partizipation von FLINTA;
- Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in Entscheidungsprozessen;
- Förderung der FLINTA für Führungspositionen in der Europäischen Kommission und in allen anderen europäischen Institutionen und Agenturen;
- Geschlechtergerechtigkeit, die unterschiedliche Lebensrealitäten von FLINTA bei politischen Entscheidungen berücksichtigt und diese zum Leitprinzip allen auswärtigen Handels macht;
- Folgenabschätzung der Politik hinsichtlich der Auswirkungen auf FLINTA und andere von Diskriminierung betroffene Gruppen;
- stärkere finanzielle Förderung der Entwicklungszusammenarbeit für Projekte mit dem hauptsächlichen Ziel der Geschlechtergerechtigkeit; und
- Stärkung der Rechte der LGBTQIA+.
Soziale Gerechtigkeit
Diskriminierung erfahren FLINTA auch im Bereich der Gesundheit. Laut Schätzungen des Europäischen Parlaments kann sich eine von zehn FLINTA in Europa keine Hygieneartikel leisten. Während einige Länder Hygieneartikel als Grundbedarf anerkannt und die Steuer gesenkt haben, ist dies in vielen europäischen Mitgliedstaaten nicht der Fall.
In der Medizin und Forschung galt für die längste Zeit der männliche Körper als Maßstab. Das heißt unter anderem, dass Medikamente an Männern getestet wurden. Heute wissen wir, dass Medikamente bei FLINTA und Männern unterschiedlich wirken. Außerdem haben FLINTA bei manchen Krankheiten, wie z.B. einem Herzinfarkt, andere Symptome als Männer. Auch im Hinblick auf Mehrfachdiskriminierung erleben FLINTA Diskriminierung im Gesundheitswesen, z.B. fehlt FLINTA mit Behinderung der gleichberechtigte Zugang zu reproduktiven Gesundheitsleistungen.
Schwangerschaftsabbrüche sind von Land zu Land mit unterschiedlichen Hürden verbunden. In manchen Mitgliedstaaten, wie Polen, sind sie ganz verboten. In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche lediglich “straffrei” und werden somit noch immer kriminalisiert. Dieser gesellschaftliche Druck durch die Illegalität und Tabuisierung von Schwangerschaftsabbrüchen führt zu einer starken psychischen Belastung für die Betroffenen. Die Reise in Länder mit liberalen Schwangerschaftsabbruchgesetzen sowie die Kosten des Eingriffs selbst sind zudem mit einer hohen finanziellen Belastung verbunden und für viele FLINTA in prekären Situationen nicht realisierbar. Insbesondere junge FLINTA im Alter zwischen 18-25 Jahren, die in Deutschland die meisten Schwangerschaftsabbrüche durchführen lassen, wird durch die finanziellen und psychischen Belastungen das Recht auf Unversehrbarkeit ihres Körpers und ihr Recht auf Selbstbestimmung extrem eingeschränkt.
Vor allem die äußerste Form der Gewalt muss bekämpft werden. Femizide, also die Tötung von FLINTA aufgrund ihres Geschlechts, werden oft nicht als solche erfasst, sondern als Familien- oder Beziehungsdramen verschleiert. Laut einer UN-Studie wurden im Jahr 2017 3.000 Femizide in Europa verzeichnet, die von den Partnern oder Familienangehörigen verübt wurden. Deutschland ist in absoluten Zahlen vorne mit dabei. Viele Fälle häuslicher Gewalt bleiben undokumentiert.
Adoptionen sind in vielen europäischen Ländern weiterhin ein Privileg für heterosexuelle Cis-Paare. In fünfzehn EU-Mitgliedsstaaten ist es gleichgeschlechtlichen Paaren nicht erlaubt, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Weiterhin ist es in einigen dieser Länder für gleichgeschlechtliche Paare noch immer unmöglich zu heiraten. Daraus folgt, dass queere Menschen und Paare innerhalb der EU unterschiedlich stark in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt sind.
Daraus ergeben sich für uns folgende Forderungen:
- Bekämpfung der Periodenarmut;
- EU-weite Verringerung geschlechtsspezifisch-diskriminierender Mechanismen in der Medizin und gleichberechtigter Zugang zu medizinischer Versorgung sowie die geschlechtsspezifische Kontrolle von Arzneimitteln durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA);
- Schutz von sexuellen und reproduktiven Rechten;
- Dekriminalisierung der prinzipiellen Möglichkeit zu Schwangerschaftsabbrüchen und Aufnahme des Rechts auf Abtreibung in die EU-Gesundheitsstrategie;
- Bekämpfung der geschlechtsspezifischen Gewalt sowie Schutz und Unterstützung für die Opfer;
- Anerkennung der unterschiedlichen Lebensrealitäten sowie Mehrfachdiskriminierungen von FLINTA und entsprechende Berücksichtigung bei politischen Entscheidungen;
- finanzielle Förderung für Frauenhäuser und NGOs, die über häusliche Gewalt und Femizide aufklären und Betroffene unterstützen; und
- Adoptionen erleichtern, besonders auch für homosexuelle Paare.
1: Global Gender Gap Report 2021: https://www.weforum.org/reports/global-gender-gap-report-2021
2: Die EU-Agentur EIGE informiert die Unionsbürger*innen öffentlich und berät und unterstützt die Mitgliedstaaten wissenschaftlich, um geschlechtsbezogene Diskriminierung zu erkennen und zu verringern sowie die Gleichstellung der Geschlechter zu verwirklichen
3: Statistisches Bundesamt für das Jahr 2020: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/03/PD21_106_621.html
4: Eurostat für 2021: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Gender_pay_gap_statistics
5: Eurostat für 2020: https://ec.europa.eu/eurostat/documents/2995521/10474930/3-06032020-AP-DE.pdf/e868ea03-d556-c188-dbbc-e37ac9e0bb55?t=1583488312000
6: Eurostat für 2018: https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/DDN-20200207-1
9: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2020-006746_EN.html
11: UNODC Global Study on Homocide – Gender-related Killing of Women and Girls, 2019, https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/gsh/Booklet_5.pdf