58. Bundeskongress, 7. bis 9. Oktober 2011 in Kiel
Für eine verantwortungsbewusste und menschenwürdige Europäische Flüchtlingspolitik
Beschluss im Wortlaut:
Auf der Flucht vor politischer und religiöser Verfolgung, Armut und Hunger, Gewalt und Krieg riskieren unzählige Menschen ihr Leben, um nach Europa zu gelangen. Jedes Jahr sterben dabei an Europas Grenzen tausende Menschen. Bis 2020 werden bis zu 50 Millionen Klimaflüchtlinge erwartet; die kritische Situation wird sich also nicht entspannen. Die Europäische Union wird ihrer Verantwortung diesen Menschen gegenüber trotz oft gegenteiliger Bekundungen in keinster Weise gerecht. Eine auf der Menschenwürde jedes Einzelnen basierende Flüchtlingspolitik in der EU ist dringend notwendig!
Ausgelöst durch den Anstieg der Flüchtlingsströme ist das Politikfeld der Flüchtlingspolitik bei Kommission, Europäischem Rat und Parlament wieder stärker in den Fokus gerückt. Von diesen Institutionen und auch zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden Initiativen gestartet, um schnell
auf die gegebene Situation in Lampedusa etc. zu reagieren. Diese Ereignisse wurden von den Medien stark begleitet, andere Flüchtlingsströme (zum Beispiel aus Syrien in die Türkei) werden dagegen außer Acht gelassen. Diese einseitige Berichterstattung ist häufig auf innenpolitische Gründe zurückzuführen.
Dabei liegt ein Schwerpunkt zunächst auf der Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigration einerseits und MigrantInnen, die aufgrund der Verfolgung in ihren Ursprungsländern nach Europa kommen wollen, andererseits. Großer Wert wird dabei auf die Feststellung gelegt, dass Europa durch den steigenden Fachkräftemangel einen hohen Bedarf an gut ausgebildeten MigrantInnen hat.
Die meisten Flüchtlinge kommen im Mittelmeerraum in der EU an. Nach dem Dublin II-Abkommen ist der Mitgliedsstaat für Asylanträge zuständig, in dem ein Flüchtling die EU zuerst betreten hat. Eine Folge dieses geltenden Prinzips ist, dass die administrativen Kapazitäten in den betroffenen Regionen überlastet sind und lange nicht alle Asylanträge bearbeiten können.
Obwohl der Vertrag von Lissabon die Entwicklung eines gemeinsamen Asylstatus anstrebt, fehlt bisher die entsprechende Umsetzung. Derzeit bestehen keine Asylbestimmungen für Klimaflüchtlinge und Verfolgte auf Grund von Gender sowie Flüchtlinge aus wirtschaftlichen Gründen. Im Gegenteil sind die Asylverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU weiterhin sehr unterschiedlich. Wenn ein Asylantrag abgelehnt wird, müssen die Betroffenen teilweise bis zu 15 Jahre in Abschiebehaft verbringen, ohne die Möglichkeit, Arbeit aufzunehmen, ohne Zukunftsperspektive. Dies widerspricht den Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention.
Die Nationalstaaten haben die Möglichkeit, die EU-Agentur Frontex zur Unterstützung bei der Grenzsicherung anzufordern. Frontex werden regelmäßig Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Die Befugnisse, Kompetenzen sowie die demokratische Legitimierung von Frontex sind nicht eindeutig geregelt, ebenso ist eine mangelhafte Transparenz ihrer Arbeit festzustellen. Dies verhindert einen objektiven Meinungsbildungsprozess der Gesellschaft.
Forderungen der JEF:
1. Die Motive der europäischen Flüchtlingspolitik müssen grundlegend überdacht werden. Eine „Festung Europa“ ist nicht hinnehmbar. Flüchtlingspolitik muss auf den Menschenrechten basieren und entsprechend umgesetzt werden. Insbesondere sind die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention zu achten.
2. Die europäische Flüchtlingspolitik muss von Solidarität getragen werden: Einzelne Mitgliedstaaten dürfen nicht mit den Problemen, die durch Migration entstehen können, allein gelassen werden. Die finanzielle, logistische und administrative Last ist zu teilen. Alle Länder der Europäischen Union müssen – in Abhängigkeit ihrer Kapazitäten – Flüchtlinge aufnehmen. Dies heißt auch, dass das Dublin II-Abkommen grundsätzlich modifiziert werden muss.
3. Die Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und das Budget der EU-Grenzschutzagentur Frontex müssen klargestellt und durch das Europäische Parlament kontrolliert werden.
4. Die vertraglich vorgesehene gemeinsame Europäische Asylpolitik (Vgl.: Art. 78 AEUV) muss entwickelt und umgesetzt werden. Asylanträge müssen in einer angemessenen Frist bearbeitet werden – unabhängig vom Mitgliedsstaat, in dem diese eingebracht werden.
5. Die Zusammenarbeit in Fragen der Flüchtlingspolitik zwischen den Regierungen der Länder, aus denen Menschen flüchten, und der EU muss sich an den Bedürfnissen der Flüchtlinge orientieren. Die Politik gegenüber diesen Ländern muss kohärent sein. Viele Flüchtlingsströme ließen sich durch eine besser koordinierte Entwicklungs- und Aufbauarbeit verhindern. Gezielt Gründen für Migration entgegenzuwirken und nachhaltige Veränderungen in den Herkunftsländern stellen wohl die humanste Art und Weise dar den Flüchtlingswellen Einhalt zu gebieten. Zudem sollen zivilgesellschaftliche Organisationen mit einbezogen werden. Insbesondere soll die Achtung der Menschenrechte und die Konzeption einer effektiven entwicklungspolitischen Strategie im Mittelpunkt stehen.
6. Die Gründe für die Gewährung von Asyl müssen der aktuellen Lage und prognostizierbaren Szenarien angepasst werden. Unter anderem müssen MigrantInnen aus Katastrophenregionen Aufnahme finden und die Situation, unter welchen Verfolgung und Bedrohung des Lebens als Kriterium für Asyl angewandt werden.
7. Es müssen Regelungen eingeführt werden zur vorläufigen Aufnahme von Flüchtlingen aus wirtschaftlichen Gründen, die sonst durch Armut bedroht in ihren Heimatländern kein menschenwürdiges Leben führen können.