61. Bundeskongress in Berlin, 31. Oktober bis 2. November 2014

Die massenhafte Speicherung und Auswertung von digitalen Daten als Gefahr für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden

Beschluss im Wortlaut:

Die Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) Deutschland begrüßen den Initiativbericht des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014, in dem es auf die Gefahren der geheimdienstlichen Überwachungspraktiken in Form des massenhaften Speicherns und Auswertens aller Kommunikationsdaten für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie hinweist.

Bereits im Juli 2001 hatte das Europäische Parlament mit seinem ECHELON-Bericht mehr Mut und Engagement gezeigt, als die meisten mitgliedsstaatlichen Parlamente. Schon damals wies es darauf hin, dass das ECHELON-Abhörsystem, das von den USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland betrieben wurde, nicht dazu diente militärische, sondern private und kommerzielle Kommunikation abzufangen. Im Lichte der zwei Monate später erfolgten Anschläge vom 11. September 2001 blieb eine breite öffentliche Debatte leider aus.

Unser Verständnis von Föderalismus ist aufs engste verbunden mit Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden. Die massenhafte Speicherung und Auswertung von digitalen Daten hat Konsequenzen für diese grundsätzlichen Wertekomplexe:

1. Terroristische Bedrohungen stellen jeden Rechtsstaat grundsätzlich vor eine Bewährungsprobe. Die technischen Möglichkeiten der digitalen Revolution, die Staaten und Geheimdiensten in ihrem ‚Kampf‘ gegen terroristische Bedrohungsszenarien heute zur Verfügung stehen, erhöhen den Druck auf den Rechtsstaat erheblich, ja könnten gar dessen Existenz in Frage stellen. • Terroristische Bedrohungen zeichnen sich v.a. durch drei Charakteristika aus: die Gefahr geht von einem (transnationalen) Netzwerk aus. Häufig haben sich Terroristen vorher nicht strafbar gemacht, sondern sich ‚im Stillen‘ radikalisiert. Gegen Selbstmordattentäter greifen staatliche Sanktionsdrohungen nicht, sodass der Staat alleine zu präventiven Maßnahmen greifen kann. Und die Schadensdimension eines terroristischen Anschlags ist potentiell enorm (z.B. 11. September, Anschläge mit ABC-Waffen), sodass der Staat präventiv aufklären und handeln muss, wenn er eine Katastrophe verhindern will.

Der Rechtsstaat tut sich im Umgang mit dieser Bedrohung grundsätzlich schwer:

  • In aller Regel sanktioniert der Rechtsstaat nur rechtswidrige Handlungen, in den seltensten Fällen bestimmte Gesinnungen. Terroristische Bedrohungen erfordern aber zumindest bis zu einem gewissen Grad terroristische Gesinnungen oder deren Vorläufer stadien festzustellen und zu bekämpfen, bevor diese in Handlungen mit riesiger Schadensdimension resultieren.
  • Der Rechtsstaat achtet die Privatsphäre seiner Bürger. Um terroristischen Bedrohungen zu begegnen, kann es aber notwendig werden, in bestimmten Milieus zu ermitteln, um entweder potentielle Terroristen oder deren aktive und passive Unterstützer und Sympathisanten frühzeitig zu identifizieren. Dabei dringt der Staat oftmals weit in die Privatsphäre unbescholtener Bürger im Umfeld von Verdächtigen ein. ◦ Der Rechtsstaat muss eine feine Balance zwischen Freiheit und Sicherheit finden, d.h. seine Handlungen am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientieren. Da die potentielle Schadensdimension terroristischer Anschläge aber riesig und die Gefahr oft nicht konkret sondern nur als diffuses Risiko zu erfassen ist, verschwimmen die Maßstäbe für eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung.

Kombiniert mit den enormen technologischen Möglichkeiten der digitalen Revolution und einer Rechtsentwicklung, die mit den enorm schnellen Innovationszyklen kaum Schritt halten kann und daher noch vielfach in der analogen Welt verhaftet ist, ergeben sich riesige Spielräume für Fehlentwicklungen und schleichende Veränderungen von rechtsstaatlicher Praxis und in letzter Konsequenz auch rechtsstaatlicher Prinzipien.

2. Die Dokumente, die Edward Snowden einigen Medien zur Verfügung gestellt hat, belegen, dass viele Geheimdienste (darunter u.a. die NSA, das GCHQ und der BND) Programme zur Gewinnung und Speicherung von Massendaten und Kommunikationsdaten jeglicher Art und global anwenden – angeblich um den Heuhaufen zu generieren, in dem dann die Nadel gefunden werden könne. Diese Art der Massenüberwachung im Kampf gegen terroristische Bedrohungen hat aber schon zur Verformung rechtsstaatlicher Strukturen geführt:

  • Ohne Anklage und ohne Gerichtsverfahren werden Menschen in einer Vielzahl von Ländern (z.B. Pakistan, Jemen, Somalia) gezielt durch Drohnen getötet, wenn sie aufgrund ihres ‚digitalen Fingerabdrucks‘ mutmaßliche Terrorist sind oder mutmaßlich terroristische Anschläge planen.
  • Die Inhaftierung der mutmaßlichen Terroristen in Guantánamo in rechtsstaatlichem Niemandsland verstößt eklatant gegen die Menschenrechte und grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien.
  • In den USA hat sich durch Privatisierung und Auslagerung bestimmter Aufgaben und Dienstleistungen eine regelrechte Geheimdienst-Industrie entwickelt, deren kommerzielles Interesse an weiterer Überwachung weit größer ist als das von Staaten, wenn diese die Aufgaben in hoheitlicher Verantwortung selbst wahrnehmen.
  • Der Anspruch der Geheimdienste, jedermann zu jederzeit und überall auf der Welt überwachen zu können, ist die vollständige Entgrenzung staatlichen bzw. geheimdienstlichen Handels und achtet nicht mehr die Souveränität anderer Staaten.

3. Auch demokratische Grundsätze, v.a. Privatsphäre und Gewaltenteilung, geraten durch die massenhafte Sammlung, Speicherung und Auswertung aller digitalen Daten zunehmend unter Druck.

  • Demokratie lebt von der Privatsphäre als Schutzraum gegen den Staat (sowie heutzutage auch gegen globale Konzerne) und als Vorhof öffentlicher politischer Tätigkeit durch Diskussion und Meinungsbildung. Wenn befürchtet werden muss, dass jegliche digitale Kommunikation gespeichert wird und potentiell irgendwann ausgewertet werden kann, verändern sich politische Kommunikation und Meinungsbildung.
  • Demokratien und demokratische Willensbildungsprozesse leben von der freien Entfaltung und Meinungsäußerungen der Bürger und Bürgerbewegungen. Sollten aufgrund von Auswertungen von Metadaten politische Entwicklungen vorhergesagt und ggf. manipuliert oder präventiv adressiert werden, würde das den Charakter einer Demokratie verändern: denn neue Ideen müssen auch neue Akteure in Entscheidungspositionen bringen können.
  • Durch die Überwachung und die Manipulation von Dokumenten auf Rechnern des Untersuchungsausschusses im amerikanischen Kongress durch US-amerikanische Geheimdienste, der sich mit ebendiesen und deren Praktiken befassen sollte, wurde eine Schwelle überschritten. Das Prinzip der Gewaltenteilung wurde hier aufgehoben.

4. Und schließlich sind wir nicht nur Zeugen passiven Datensammelns und Auswertens, sondern auch Zeugen der Entwicklung von digitalen Waffen für künftige Kriegsführung im Cyberspace:

  • ein digitales Wettrüsten ist längst im Gange. Krieg und Verteidigungsmaßnahmen bringen aber die Wertekomplexe von „nationaler Sicherheit“ und „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ in eine auf Dauer schädliche Konkurrenzbeziehung.
  • Die Beispiele „Stuxnet“ (Cyber-Angriff auf eine iranische Atomanlage) und „Shamoon“ (Cyber-Angriff auf einen saudi-arabischen Erdölkonzern) sowie die Spannungen und gegenseitigen Vorwürfe von Cyberattacken zwischen den USA und China legen nahe, dass ein weltweiter Rüstungswettlauf im Cyberspace im Gange ist.
  • Wir befinden uns also anscheinend wieder in einem Sicherheitsdilemma ähnlich dem des Kalten Krieges: jede Seite entwickelt digitale Selbstverteidigungswaffen, die von anderen wiederum als Bedrohung wahrgenommen werden und ihrerseits wieder Rüstungsanstrengungen zur Folge haben.

5. Die JEF Deutschland fordert daher:

  • Die Diskussionen um den staatlichen bzw. geheimdienstlichen Einsatz der neuen digitalen Techniken dürfen nicht vom Extremfall eines Terroranschlags her geführt werden. Andernfalls droht eine Erosion rechtsstaatlicher Grundsätze. Die Privatsphäre und deren Schutz müssen im Zentrum aller Überlegungen und Gesetzgebungen stehen.
  • Die mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht mehr zu vereinbarenden Praktiken der gezielten Tötung mutmaßlicher Terroristen durch Drohnen, die Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen auf Guantánamo und anderswo (z.B. in CIA-Geheimgefängnissen) muss international ge- ächtet werden. Europa muss hier eine Vorreiterrolle einnehmen. Duldung oder aktive Unterstützung der vorgenannten Praktiken durch EU-Mitgliedstaaten müssen vollumfänglich beendet werden.
  • Geheimdienstliche Aufgaben, die genuin den Kern hoheitlicher Aufgaben ausmachen und grundsätzlich der Gewaltenteilung und legislativer wie judikativer Kontrolle unterliegen müssen, dürfen nicht ausgelagert und privatisiert werden.
  • Die Kontrolle von Parlamenten und Gerichten über Geheimdienste muss wesentlich gestärkt werden. Im Geheimen tagende und entscheidende Gerichte sind nicht mit unserem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit zu vereinbaren.
  • Eine kritische öffentliche Debatte über europäische Forschungsprogramme zur präventiven Polizeiarbeit (z.B. indect) ist längst überfällig. Wir als JEF stehen einer automatisierten Erkennung ‚abnormalen Verhaltens‘ von Personen im öffentlichen Raum zur präventiven Verbrechensbekämpfung sehr skeptisch gegenüber.
  • Wir fordern die Europäische Union darüber hinaus auf, unter Mitwirkung aller europäischen Geheimdienste breit angelegte Maßnahmen gegen internationale Datenspionage zu ergreifen und zum Schutz der Privatsphäre europäischer Bürgerinnen und Bürger eine Europäische Spionageabwehr zu forcieren.
  • Die EU-Mitgliedsstaaten sollten gemeinsam mit den USA Prozesse vertrauensbildender Maßnahmen und Rüstungskontrollverhandlungen mit digitalem Schwerpunkt (z.B. mit China, Russland, Iran) initiieren. Als Vorbild könnten die KSZE Verhandlungen dienen (KSZE 2.0).
  • Wir sind uns bewusst, dass all die hier skizzierten Problemstellungen nicht ohne oder gar gegen die USA zu lösen sind. Wir fordern daher die EU und ihre Mitgliedsstaaten auf, verstärkt mit den USA und ihren Repräsentanten den Dialog zu suchen und sich um gemeinsame Verständnisse der Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Problemanalysen und Lösungsstrategien zu bemühen. Unverzichtbar für diesen Dialog sind auch all die politischen und zivilgesellschaftlichen Partnerschaftsforen zwischen der EU, ihren Mitgliedsstaaten und den USA.
  • Vorbedingung für die beiden letztgenannten Punkte ist freilich, dass Spionage zwischen den EU-Mitgliedsstaaten auf europäischer Ebene kritisch thematisiert und vertraglich ausgeschlossen wird.“
jefwpDie massenhafte Speicherung und Auswertung von digitalen Daten als Gefahr für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frieden